Wirkung der Nymphéas
In Monets Spätwerk werden die Leinwände immer größer,
während das dargestellte Wahrnehmungsfeld immer kleiner
wird. Vom Seestück zur Seerose, so kann man das empfindend
eindringende Annähern an das Sujet umschreiben. Zeigt das
frühe und mittlere Werk noch recht konventionelle Landschaftsausschnitte,
so 'zoomt' Monet im Spätwerk gewissermaßen auf die
Phänomene zu. In den Nymphéas ist das deutlichste
Merkmal für Monets mikroskopisch eindringenden Blick das
Fehlen des Horizonts - dem Indiz für das überschauende
Sehen überhaupt. Monet hat die Gegenstände seiner Empfindung
nicht in solcher Weise organisiert, daß er sie in einen
vorgeformten Raum eingeordnet hätte. Vielmehr bilden die
Seerosen, die Spiegelungen, Wolken und Reflexe eine Räumlichkeit
und einen Zusammenhang. In der mikroskopischen Nähe,
die sich in Monets Malweise zeigt, verliert, so Huxley, der Mensch
seinen Vorrang: "Etwas Ähnliches widerfährt dem
kurzsichtigen Künstler und dem glücklich Liebenden.
In der vermählenden Umarmung zerschmilzt die Persönlichkeit,
das Einzelwesen ... hört auf, es selbst zu sein und wird
Teil des riesigen unpersönlichen Weltalls. Und so ist es
auch mit dem Maler, der sich dazu entschlossen hat, seine Augen
auf die unmittelbare Nähe zu richten. In seinem Werk verliert
die Menschheit ihre Wichtigkeit ... Wir werden aufgefordert,
statt 'des Menschen, des stolzen Menschen, der seine tollen Possen
vor dem hohen Himmel treibt', die Lilien zu sehen, über
die unirdische Schönheit 'bloßer Dinge' zu meditieren,
wenn sie aus ihrem von Nützlichkeit bedingten Zusammenhang
gelöst und so, wie sie sind, an und für sich wiedergegeben
werden."1 Monet "hatte eine Großaufnahme
natürlicher Gegenstände gemalt, gesehen in ihrem eigenen
Zusammenhang und ohne Beziehung auf ausschließlich menschliche
Vorstellungen davon, wie die Dinge sind oder sein sollten."2 Menschliche Vorstellungen sind im allgemeinen
auf leicht erkennbare und kognitiv faßbare Ordnungen aus.
Derartige Ordnungen bieten Monets Seerosen den Rezipienten nicht.
Die Seerosen vermitteln vielmehr die Erfahrung der Abwesenheit
solcher Ordnungen. Der Kunstkritiker Roger Fry bemerkte im Gespräch
mit Huxley, Monets Seerosen "hätten kein Recht darauf
... so schockierend unorganisiert zu sein, so völlig eines
ordentlichen kompositorischen Gerüsts zu entbehren. Sie
seien, künstlerisch gesprochen, ganz unrichtig. Und doch,
mußte er zugeben, und doch ... wirkten sie ... entrückend."3 So folgt lebensgeschichtliches Lernen aus der
Wahrnehmung von Brüchen, die curricular Erlerntes - hier
die tradierte Vorstellung, wie ordentliche Kunst auszusehen hat
- in Frage stellen.