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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Wirkung der Nymphéas

 

In Monets Spätwerk werden die Leinwände immer größer, während das dargestellte Wahrnehmungsfeld immer kleiner wird. Vom Seestück zur Seerose, so kann man das empfindend eindringende Annähern an das Sujet umschreiben. Zeigt das frühe und mittlere Werk noch recht konventionelle Landschaftsausschnitte, so 'zoomt' Monet im Spätwerk gewissermaßen auf die Phänomene zu. In den Nymphéas ist das deutlichste Merkmal für Monets mikroskopisch eindringenden Blick das Fehlen des Horizonts - dem Indiz für das überschauende Sehen überhaupt. Monet hat die Gegenstände seiner Empfindung nicht in solcher Weise organisiert, daß er sie in einen vorgeformten Raum eingeordnet hätte. Vielmehr bilden die Seerosen, die Spiegelungen, Wolken und Reflexe eine Räumlichkeit und einen Zusammenhang. In der mikroskopischen Nähe, die sich in Monets Malweise zeigt, verliert, so Huxley, der Mensch seinen Vorrang: "Etwas Ähnliches widerfährt dem kurzsichtigen Künstler und dem glücklich Liebenden. In der vermählenden Umarmung zerschmilzt die Persönlichkeit, das Einzelwesen ... hört auf, es selbst zu sein und wird Teil des riesigen unpersönlichen Weltalls. Und so ist es auch mit dem Maler, der sich dazu entschlossen hat, seine Augen auf die unmittelbare Nähe zu richten. In seinem Werk verliert die Menschheit ihre Wichtigkeit ... Wir werden aufgefordert, statt 'des Menschen, des stolzen Menschen, der seine tollen Possen vor dem hohen Himmel treibt', die Lilien zu sehen, über die unirdische Schönheit 'bloßer Dinge' zu meditieren, wenn sie aus ihrem von Nützlichkeit bedingten Zusammenhang gelöst und so, wie sie sind, an und für sich wiedergegeben werden."1 Monet "hatte eine Großaufnahme natürlicher Gegenstände gemalt, gesehen in ihrem eigenen Zusammenhang und ohne Beziehung auf ausschließlich menschliche Vorstellungen davon, wie die Dinge sind oder sein sollten."2 Menschliche Vorstellungen sind im allgemeinen auf leicht erkennbare und kognitiv faßbare Ordnungen aus. Derartige Ordnungen bieten Monets Seerosen den Rezipienten nicht. Die Seerosen vermitteln vielmehr die Erfahrung der Abwesenheit solcher Ordnungen. Der Kunstkritiker Roger Fry bemerkte im Gespräch mit Huxley, Monets Seerosen "hätten kein Recht darauf ... so schockierend unorganisiert zu sein, so völlig eines ordentlichen kompositorischen Gerüsts zu entbehren. Sie seien, künstlerisch gesprochen, ganz unrichtig. Und doch, mußte er zugeben, und doch ... wirkten sie ... entrückend."3 So folgt lebensgeschichtliches Lernen aus der Wahrnehmung von Brüchen, die curricular Erlerntes - hier die tradierte Vorstellung, wie ordentliche Kunst auszusehen hat - in Frage stellen.


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1 Huxley, 1954, S. 98f. Huxley zitiert vermutlich D.H. Lawrence.

2 Huxley, 1954, S. 97.

3 Huxley, 1954, S. 97.


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