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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Entstehung der Nymphéas

 

Monet erläuterte gegenüber Thiébault-Sisson, wie er auf den Gedanken gekommen war, die Nymphéas zu malen: "Ich hatte, seit ich sechzig war, die Idee, mich in jeder Kategorie von Motiven, die nacheinander meine Aufmerksamkeit gefesselt hatten, mit einer Art Synthese zu befassen, in der ich auf einem, vielleicht auch auf zwei Gemälden meine früheren Eindrücke und Impressionen zusammenfassen wollte... Ich hatte den Plan schon aufgegeben. Der graue Star hat mich wieder darauf gebracht. Ich habe immer den Himmel und das Wasser, das Grün und die Blumen geliebt. All diese Elemente fanden sich in Hülle und Fülle in meinem Teich. Manchmal morgens oder abends - ich hatte nämlich aufgehört, während der leuchtendhellen Tagesstunden zu arbeiten ... - sagte ich mir, wenn ich meine Skizzen machte, daß eine Serie von Impressionen des Ensembles während jener Stunden, in denen mein Sehvermögen die größten Chancen hat, naturgetreu zu sein, nicht uninteressant wäre. Ich wartete, bis die Idee Gestalt angenommen hatte und die Gestaltung und Komposition der Motive sich nach und nach von selbst in meinem Kopf eingeprägt hatte."1

Monet beschreibt hier den Prozeß, in dem er die Umsetzung seiner Empfindungen der Ausführung voranstellt - um dann immer wieder vor sein Sujet zurückzukehren, wo er große Skizzen anfertigte. Offenbar benutzte Monet so etwas wie ein Notationssystem aus großen und groben Pinselschwüngen, mit dessen Hilfe er Farbwerte, Richtungen und Verteilungen aufzeichnete, um den ursprünglichen Eindruck vor den großen Leinwänden im Atelier wieder hervorzurufen. Trévise schildert, wie Monet ihm "riesige verwirrende Studien" gezeigt habe, "die er im Laufe der letzten Sommer eigens an Ort und Stelle gemacht hat: ein Wirrwarr ähnlicher Farbtöne, das kein anderes Auge entwirren könnte, bizarre Ansammlungen körperloser Wollknäuel, dank derer der Maler die Skala jeder Atmosphäre vor sich hatte."2 Die Tafeln waren zu groß (2 m hoch und zwischen 4 und 8 m breit), um vor Ort gemalt werden zu können, sie hätten ihm die Sicht auf das Sujet ohnehin abgeschnitten. Monet nutzte Aufzeichnungen und Erinnerungen,3 um auf den Tafeln ein eigenwilliges System von farbigen Strukturen zu schaffen, das aus seiner Empfindung hervorging und nun als Vermittlungsstrategie dient, Empfindungen hervorzurufen und zu lenken. Gelenkt werden nicht allein Empfindungen, sondern auch Bewegungen. Denn vor dem großen Format wird die Gestik des Malers wichtig für die malerische Ausführung.4


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1 Monet nach Thiébault-Sisson: Die Seerosen von Claude Monet in der Orangerie der Tuilerien. Zuerst in: La Revue de l'art ancien et moderne, Juni 1927. In: Stuckey, 1994, S. 290f.
"Je me disais, en executant mes pochades, qu'une série d'impressions d'ensemble, prises aux heures où ma vision avait le plus de chances d'être juste, ne serait pas dénuée d'interêt. J'attendis que l'idée eût pris corps, que l'ordonnance et la composition des motifs se fussent peu à peu inscrites dans mon cerveau d'elles-mêmes, et le jour où je me sentis assez d'atouts dans la main pour tenter ma chance avec un espoir réel de succès, je me résolus à agir, et j'agis" (Monet nach Thiébault-Sisson (1918), zit. nach: Levine, 1976, S. 414.)

2 Trévise in: Stuckey, 1994, S. 339.

3 Monet bestritt im Gespräch mit Trévise die Möglichkeit, daß Erinnerungen ausreichen könnten, um den gewünschten Eindruck wiedergeben zu können. Trévise hatte vermutet, daß Monet nach einem Leben im Freien nun imstande sei, die Seerosenbilder im Atelier zu malen, er könne die Augen schließen und jeder früher eingefangene Aspekt käme auf Befehl wieder. Monet antwortete, das sei eine äußerst höfliche Unterstellung, doch "selbst wenn man die Natur ein wenig kennt, ist es besser, nichts ohne Modell zu malen." (Monet nach: Trévise in: Stuckey, 1994, S. 338.)
Nun sind visuelle Eindrücke wohl kaum schnappschußartig in allen Details konservierbar, doch sie wirken vor dem inneren Auge nach. Goethes schildert in diesem Zusammenhang die Tätigkeit des Gedächtnisses in den Sinnesorganen. Goethe beschreibt, wie er sich bei geschlossenen Augen die Empfindung von Blumen willkürlich hervorrufen konnte. "Wenn ich ... mir in der Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie legte sich aus einander und aus ihrem Innern entfalteten sich wieder neue Blumen aus farbigen, auch wohl grünen Blättern; es waren jedoch keine natürlichen Blumen sondern phantastische, jedoch regelmäßig wie die Rosetten der Bildhauer. Es war unmöglich die hervorquellende Schöpfung zu fixieren, hingegen dauerte sie so lange als mir beliebte ... Mit andern Gegenständen fiel mir nicht ein den Versuch zu machen; warum aber diese bereitwillig von selbst hervortraten, mochte daran liegen, daß die vieljährige Betrachtung der Pflanzenmetamorphose, sowie nachheriges Studium der gemalten Scheiben, mich mit diesen Gegenständen ganz durchdrungen hatte ... Hier darf nun unmittelbar die höhere Betrachtung aller bildenden Kunst eintreten; man sieht deutlicher ein, was es heißen wolle, daß Dichter und alle eigentliche Künstler geboren sein müssen. Es muß nämlich ihre innere produktive Kraft jene Nachbilder, die im Organ, in der Erinnerung, in der Einbildungskraft zurückgebliebenen Idole freiwillig ohne Vorsatz und Wollen lebendig hervortun". (Goethe, 1819, S. 177f)
Goethes Beschreibung fast 'eingebrannter' Motive ist mir aus eigener Erfahrung vertraut. Es traten solche Phänomene - oft tagelang - nach der intensiven bildnerischen Beschäftigung mit bestimmten Motiven auf. Ich nehme an, daß Monet solche Phänomene kannte.

4 Das gestische Moment erlaubte, Monets Malerei in der zweiten Phase ihrer Rezeption mit amerikanischem Action-Painting zu vergleichen: "The impasto belongs not only to the painted surface but even more to the movements by which he applied it; Monet stood already, as we know now, within the portals of action painting." (Shattuck, 1982, S. 40.)


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