Ursprüngliches Sehen
Helmholtz' Ausführungen machen verständlicher, welch
ein Blick das gewesen sein könnte und inwiefern man solches
Sehen als erweitert gegenüber utilitaristischer Wahrnehmung
verstehen kann. Zunächst sind wir darauf trainiert, aus
wenigen Empfindungsdaten Vertrautes zu identifizieren, die Sinnesdaten
sind uns nicht bewußt. Einerseits sind wir bei der Beurteilung
von Empfindungen auf deren Kontext angewiesen, andererseits hindert
uns oft die eingeübte Beziehung auf die Außenwelt,
uns der reinen Empfindungen bewußt zu werden. Bewußt
werden sie uns erst dann, wenn wir den eingeübten Kontext
verlassen: "Als Beispiel dafür möge die bekannte
Erfahrung dienen, daß die Farben einer Landschaft viel
glänzender und bestimmter heraustreten, wenn man sie bei
schiefer und umgekehrter Lage des Kopfes betrachtet, als bei
der gewöhnlichen aufrechten Haltung. Bei der gewöhnlichen
Art der Beobachtung suchen wir nur die Objekte als solche richtig
zu beurtheilen. Wir wissen, daß grüne Flächen
aus einer gewissen Entfernung in etwas verändertem Farbton
erscheinen; wir gewöhnen uns von dieser Veränderung
abzusehen und lernen das veränderte Grün ferner Wiesen
und Bäume doch mit der entsprechenden Farbe naher Objekte
zu identificiren. Bei sehr fernen Objecten, fernen Bergreihen
bleibt von der Körperfarbe wenig zu erkennen, sie wird meist
durch die Farbe der erleuchteten Luft überdeckt. Diese unbestimmt
blaugraue Farbe, an welche nach oben das helle blaue Feld des
Himmels oder das rothgelbe der Abendbeleuchtung, nach unten das
lebhafte Grün der Wiesen und Wälder grenzt, ist Veränderungen
durch den Contrast sehr ausgesetzt. Es ist für uns die unbestimmte
und wechselnde Farbe der Ferne, deren Unterschied zu verschiedenen
Zeiten und bei verschiedenen Beleuchtungen wir wohl genauer beachten,
während wir ihre wahre Beschaffenheit nicht bestimmen, da
wir sie auf kein bestimmtes Object zu übertragen haben und
wir eben ihre wechselnde Beschaffenheit kennen. So wie wir uns
aber in ungewöhnliche Umstände versetzen, z.B. unter
dem Arme oder zwischen den Beinen durchsehen, so erscheint uns
die Landschaft als ein plattes Bild, theils wegen der ungewöhnlichen
Lage ihres Bildes im Auge, theils weil die binoculare Beurtheilung
der Entfernung ... ungenauer wird. Ja es kommt wohl vor, daß
bei umgekehrtem Kopfe die Wolken richtige Perspective bekommen,
während die Objecte der Erde als ein Gemälde auf senkrechter
Fläche erscheinen, wie sonst die Wolken am Himmel. Damit
verlieren auch die Farben ihre Beziehung zu nahen oder fernen
Objecten und treten uns nun rein in ihren eigenthümlichen
Unterschieden entgegen. Da erkennen wir denn ohne Mühe,
daß das unbestimmte Blaugrau der weiten Ferne oft ein ziemlich
gesättigtes Violett ist, daß das Grün der Vegetation
stufenweise durch Blaugrün und Blau in jenes Violett übergeht
u.s.w. Dieser ganze Unterschied scheint mir darauf zu beruhen,
daß wir die Farben nicht mehr als Zeichen für die
Beschaffenheit von Objecten betrachten, sondern nur noch als
verschiedene Empfindungen und wir deshalb ihre eigenthümlichen
Unterschiede unbeirrt durch andere Rücksichten, genauer
auffassen."1
Folgt man Helmholtz' Ausführungen - die geradezu als Beschreibung
Monetscher Wasserlandschaften gelesen werden könnten -,
so scheint Monet fähig gewesen zu sein, von der aufs Zweckmäßige
gerichteten, eingeübten Beziehung auf die Außenwelt
absehen zu können. Lilla Cabot Perry, die gerne Monets Schülerin
gewesen wäre (Monet hat niemals Schüler genommen 2 ), paraphrasiert den 'Lehrer' Monet so: "Wenn
Sie zum Malen ins Freie gehen, versuchen Sie, die Objekte, die
Sie vor sich haben - einen Baum, ein Haus, ein Feld oder was
auch immer - zu vergessen. Denken Sie nur, hier ist ein blaues
Quadrat, hier ein rosafarbenes Rechteck, hier ein gelber Streifen,
und malen Sie es so, wie es für Sie aussieht, genau die
Farbe und die Form, bis es Ihren eigenen naiven Eindruck der
Szene vor ihnen abbildet."3
Wie Helmholtz' Ausführungen gezeigt haben, ist das, was
Monet als 'naiven Eindruck' beschrieb, keinesfalls selbstverständlich.
Er entspricht jedoch der im 19. Jahrhundert verbreiteten Vorstellung
vom 'ursprünglichen Sehen'. "Die Kunsttheorie des 19.
Jahrhunderts war auf der Spur dieses Problems mit Wendungen wie
der 'Unschuld des Auges' (Ruskin), mit dem Konzept 'reiner Wahrnehmung'
oder der Idee eines 'ursprünglichen Sehens', für die
nicht selten ein geheilter Blinder bemüht wurde, dessen
Auge die Wirklichkeit neu und anfänglich erschließt."4 Es formuliert sich der Wunsch, dem Sehen gegenüber
Begriff, Sprache und Text einen erweiterten Spielraum zu schaffen
und es aus der Vorherrschaft des Wissens und aus seiner Bindung
an das wiedererkennende Sehen zu befreien. Der Kritiker John
Ruskin schrieb 1850: "Die ganze technische Kraft der Malerei
hängt davon ab, daß wir die sogenannte Unschuld
des Auges wiedererlangen, eine Art kindlicher Wahrnehmungsweise,
mit der wir Farbflecken als das wahrnehmen, was sie sind, ohne
Bewußtsein dessen, was sie bedeuten - wie ein Blinder sie
sehen würde, wenn er plötzlich sehen könnte."5
Daß Monet vom 'naiven Eindruck' spricht, der festzuhalten
sei, drückt seine Suche nach unverfälschten visuellen
Eindrücken aus. Dieses - unerreichbare - Ideal hat die Kraft
eines Mythos: "Der 'Blinde' ist ein mythischer Held, der
sich einer Welt urwüchsiger Phänomene gegenübersieht.
Sein Empirismus ist total."6 Im Unterschied
zur ungeordneten Wahrnehmung geheilter Blinder ist Ruskins 'unschuldiges
Auge' alles andere als ein ursprüngliches Phänomen.
Solches Sehen ist vielmehr erlernt. Ruskin, Monet und Cézanne
geht es um "ein Sehen, das unter großen Schwierigkeiten
zustande kommt und für das Auge einen Blickwinkel beansprucht,
der vom Gewicht historischer Codes und Konventionen des Sehens
befreit ist; um eine Position, von der aus das Sehen funktionieren
kann, ohne dem Zwang zu unterliegen, seinen Inhalt in eine verdinglichte
'wirkliche' Welt einordnen zu müssen."7
Was Jonathan Crary als Gewinn und Zuwachs an Freiheit beschreibt,
wird von Arnold Hauser kritisch betrachtet. Der Impressionismus
greife mit der Konstruktion des jeweiligen Gegenstands aus den
nackten Sinnesdaten auf "den unbewußten psychischen
Mechanismus zurück und gibt zum Teil rohes Erfahrungsmaterial,
das unserem gewöhnlichen Wirklichkeitsbild ferner steht
als die begrifflich verarbeiteten Sinneseindrücke."8