Zurück
Gabriele Schmid:  Illusionsräume
Home

 

Ursprüngliches Sehen

 

Helmholtz' Ausführungen machen verständlicher, welch ein Blick das gewesen sein könnte und inwiefern man solches Sehen als erweitert gegenüber utilitaristischer Wahrnehmung verstehen kann. Zunächst sind wir darauf trainiert, aus wenigen Empfindungsdaten Vertrautes zu identifizieren, die Sinnesdaten sind uns nicht bewußt. Einerseits sind wir bei der Beurteilung von Empfindungen auf deren Kontext angewiesen, andererseits hindert uns oft die eingeübte Beziehung auf die Außenwelt, uns der reinen Empfindungen bewußt zu werden. Bewußt werden sie uns erst dann, wenn wir den eingeübten Kontext verlassen: "Als Beispiel dafür möge die bekannte Erfahrung dienen, daß die Farben einer Landschaft viel glänzender und bestimmter heraustreten, wenn man sie bei schiefer und umgekehrter Lage des Kopfes betrachtet, als bei der gewöhnlichen aufrechten Haltung. Bei der gewöhnlichen Art der Beobachtung suchen wir nur die Objekte als solche richtig zu beurtheilen. Wir wissen, daß grüne Flächen aus einer gewissen Entfernung in etwas verändertem Farbton erscheinen; wir gewöhnen uns von dieser Veränderung abzusehen und lernen das veränderte Grün ferner Wiesen und Bäume doch mit der entsprechenden Farbe naher Objekte zu identificiren. Bei sehr fernen Objecten, fernen Bergreihen bleibt von der Körperfarbe wenig zu erkennen, sie wird meist durch die Farbe der erleuchteten Luft überdeckt. Diese unbestimmt blaugraue Farbe, an welche nach oben das helle blaue Feld des Himmels oder das rothgelbe der Abendbeleuchtung, nach unten das lebhafte Grün der Wiesen und Wälder grenzt, ist Veränderungen durch den Contrast sehr ausgesetzt. Es ist für uns die unbestimmte und wechselnde Farbe der Ferne, deren Unterschied zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Beleuchtungen wir wohl genauer beachten, während wir ihre wahre Beschaffenheit nicht bestimmen, da wir sie auf kein bestimmtes Object zu übertragen haben und wir eben ihre wechselnde Beschaffenheit kennen. So wie wir uns aber in ungewöhnliche Umstände versetzen, z.B. unter dem Arme oder zwischen den Beinen durchsehen, so erscheint uns die Landschaft als ein plattes Bild, theils wegen der ungewöhnlichen Lage ihres Bildes im Auge, theils weil die binoculare Beurtheilung der Entfernung ... ungenauer wird. Ja es kommt wohl vor, daß bei umgekehrtem Kopfe die Wolken richtige Perspective bekommen, während die Objecte der Erde als ein Gemälde auf senkrechter Fläche erscheinen, wie sonst die Wolken am Himmel. Damit verlieren auch die Farben ihre Beziehung zu nahen oder fernen Objecten und treten uns nun rein in ihren eigenthümlichen Unterschieden entgegen. Da erkennen wir denn ohne Mühe, daß das unbestimmte Blaugrau der weiten Ferne oft ein ziemlich gesättigtes Violett ist, daß das Grün der Vegetation stufenweise durch Blaugrün und Blau in jenes Violett übergeht u.s.w. Dieser ganze Unterschied scheint mir darauf zu beruhen, daß wir die Farben nicht mehr als Zeichen für die Beschaffenheit von Objecten betrachten, sondern nur noch als verschiedene Empfindungen und wir deshalb ihre eigenthümlichen Unterschiede unbeirrt durch andere Rücksichten, genauer auffassen."1

Folgt man Helmholtz' Ausführungen - die geradezu als Beschreibung Monetscher Wasserlandschaften gelesen werden könnten -, so scheint Monet fähig gewesen zu sein, von der aufs Zweckmäßige gerichteten, eingeübten Beziehung auf die Außenwelt absehen zu können. Lilla Cabot Perry, die gerne Monets Schülerin gewesen wäre (Monet hat niemals Schüler genommen 2 ), paraphrasiert den 'Lehrer' Monet so: "Wenn Sie zum Malen ins Freie gehen, versuchen Sie, die Objekte, die Sie vor sich haben - einen Baum, ein Haus, ein Feld oder was auch immer - zu vergessen. Denken Sie nur, hier ist ein blaues Quadrat, hier ein rosafarbenes Rechteck, hier ein gelber Streifen, und malen Sie es so, wie es für Sie aussieht, genau die Farbe und die Form, bis es Ihren eigenen naiven Eindruck der Szene vor ihnen abbildet."3

Wie Helmholtz' Ausführungen gezeigt haben, ist das, was Monet als 'naiven Eindruck' beschrieb, keinesfalls selbstverständlich. Er entspricht jedoch der im 19. Jahrhundert verbreiteten Vorstellung vom 'ursprünglichen Sehen'. "Die Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts war auf der Spur dieses Problems mit Wendungen wie der 'Unschuld des Auges' (Ruskin), mit dem Konzept 'reiner Wahrnehmung' oder der Idee eines 'ursprünglichen Sehens', für die nicht selten ein geheilter Blinder bemüht wurde, dessen Auge die Wirklichkeit neu und anfänglich erschließt."4 Es formuliert sich der Wunsch, dem Sehen gegenüber Begriff, Sprache und Text einen erweiterten Spielraum zu schaffen und es aus der Vorherrschaft des Wissens und aus seiner Bindung an das wiedererkennende Sehen zu befreien. Der Kritiker John Ruskin schrieb 1850: "Die ganze technische Kraft der Malerei hängt davon ab, daß wir die sogenannte Unschuld des Auges wiedererlangen, eine Art kindlicher Wahrnehmungsweise, mit der wir Farbflecken als das wahrnehmen, was sie sind, ohne Bewußtsein dessen, was sie bedeuten - wie ein Blinder sie sehen würde, wenn er plötzlich sehen könnte."5

Daß Monet vom 'naiven Eindruck' spricht, der festzuhalten sei, drückt seine Suche nach unverfälschten visuellen Eindrücken aus. Dieses - unerreichbare - Ideal hat die Kraft eines Mythos: "Der 'Blinde' ist ein mythischer Held, der sich einer Welt urwüchsiger Phänomene gegenübersieht. Sein Empirismus ist total."6 Im Unterschied zur ungeordneten Wahrnehmung geheilter Blinder ist Ruskins 'unschuldiges Auge' alles andere als ein ursprüngliches Phänomen. Solches Sehen ist vielmehr erlernt. Ruskin, Monet und Cézanne geht es um "ein Sehen, das unter großen Schwierigkeiten zustande kommt und für das Auge einen Blickwinkel beansprucht, der vom Gewicht historischer Codes und Konventionen des Sehens befreit ist; um eine Position, von der aus das Sehen funktionieren kann, ohne dem Zwang zu unterliegen, seinen Inhalt in eine verdinglichte 'wirkliche' Welt einordnen zu müssen."7 Was Jonathan Crary als Gewinn und Zuwachs an Freiheit beschreibt, wird von Arnold Hauser kritisch betrachtet. Der Impressionismus greife mit der Konstruktion des jeweiligen Gegenstands aus den nackten Sinnesdaten auf "den unbewußten psychischen Mechanismus zurück und gibt zum Teil rohes Erfahrungsmaterial, das unserem gewöhnlichen Wirklichkeitsbild ferner steht als die begrifflich verarbeiteten Sinneseindrücke."8


Home

Inhalt

Weiter


 

1 Helmholtz, 1896, S. 606f.
Das Umdrehen von Bildern zum Zwecke der Überprüfung von Farbe und Komposition unabhängig von den dargestellten Gegenständen ist ein alter Atelierbrauch. Leonardo da Vinci empfahl, zu gleichen Zweck einen Spiegel zu benutzen.

2 "Ich bin gegen das Lehren. Von der Natur müssen wir lernen. Vor einiger Zeit schrieb man mich an und fragte mich, ob ich Kunststudenten unterrichten wolle, die nach Giverny kommen sollten. Ich antwortete: 'Nein; ich muß selbst zu viel lernen, um mich in ein solches Vergnügen zu stürzen.' Es gibt zwei Möglichkeiten: Wenn ein junger Mann das heilige Feuer verspürt - soll er arbeiten, soll er die Natur studieren... S'il a quelque chose dans le ventre, il trouvera les moyens... Andererseits, wenn es nur der schlichte Wunsch ist, Künstler zu werden, kann er eine Schule besuchen, wenn er möchte ... lehren läßt sich nur das Handwerk, die Techniken. Wenn er alles gelernt hat, das ihm selbst ein guter Lehrer beibringen kann - dann ist die ganze Frage immer noch offen." (Monet nach Walter Pach: Im Atelier von Claude Monet. Zuerst in: Scribner's Magazine, Juni 1908. In: Stuckey, 1994, S. 252.

3 Monet nach Lilla Cabot Perry: "Erinnerungen an Claude Monet von 1889 bis 1909" Zuerst in: The American Magazine of Art, März 1927. In: Stuckey, 1994, S. 183.

4 Boehm, 1986, S. 118.
Problematisch an der Vorstellung von einem unschuldigen Auge ist, daß in ihr noch ein Rest der Suche nach 'objektiver Wahrheit' verborgen liegt: Die Idee, das Künstlerauge allein vermöchte die Natur so zu sehen wie sie 'tatsächlich' ist.

5 John Ruskin, zit. nach: Crary, 1996, S. 100.
Bei der Untersuchung Blindgeborener, denen durch eine Operation das Augenlicht gegeben wurde, hat man festgestellt, daß die Operation nur einen vorbereitenden Wert hat. "Einem Blindgeborenen das Sehen wiederzugeben, ist mehr die Arbeit eines Erziehers als die eines Arztes." (Moreau, zit. nach: Zajonc, 1994, S. 16.) Die rohen Sinnesdaten müssen erst mit Hilfe kognitiver Fähigkeiten interpretiert werden, bevor von 'Sehen' gesprochen werden kann. "Neben dem äußeren Licht und dem Auge ist das Sehvermögen auch auf ein 'inneres Licht' angewiesen, ein Licht, welches das vertraute Außenlicht ergänzt und die rohen Sinnesdaten in bedeutungsvolle Wahrnehmung verwandelt. Das Licht des Bewußtseins muß sich mit dem Licht der Natur vereinigen, um eine Welt hervorzubringen." (Zajonc, 1994, S. 17.)

6 Gordon/Forge, 1985, S. 56.

7 Crary, 1996, S. 101.

8 Hauser, 1953, S. 932.


Home

Inhalt

Weiter