Zurück
Gabriele Schmid:  Illusionsräume
Home

 

VISION

 

Claude Monets Nymphéas in der Orangerie zu Paris

 

Das Wort 'wie schön' in einer Landschaft verletzt deren stumme Sprache und mindert ihre Schönheit; erscheinende Natur will Schweigen, während es jenen, der ihrer Erfahrung fähig ist, zum Wort drängt, das von der monadologischen Gefangenschaft für Augenblicke befreit.

T.W. Adorno

 

 

Claude Monet hat von 1890 1 bis zu seinem Tod im Jahr 1926 Seerosenbilder gemalt, die allesamt in seinem Wassergarten und in seinen Ateliers in Giverny (Abb. 2) entstanden sind. Hier soll es um die Nymphéas in der Orangerie der Tuileriengärten (Abb. 1, 30-32) gehen. Das sind acht sehr großformatige Tafeln, die nach Monets Anweisungen seit 1927 in zwei ovalen Räumen im Erdgeschoß des Gebäudes (es wird nördlich von den Tuileriengärten und südlich von der Seine flankiert) installiert sind. Anders als in den Panoramarotunden hindert hier nichts die Besucher, sich bis auf wenige Zentimeter den Bildtafeln zu nähern. Monets Bildern liegt eine Wahrnehmungsweise zugrunde, die sich wesentlich vom überschauenden panoramatischen Blick unterscheidet. Diesen Blick möchte ich gegenüber dem utilitaristischen Erfassen der Dinge als erweitert bezeichnen. Natur und Wirkung solcher Wahrnehmungsweise sollen hier untersucht werden.

Zunächst gebe ich eine kurze Beschreibung der Erscheinungsweise von Monets Malerei. Im Folgenden erläutere ich anhand von Hermann von Helmholtz' Untersuchungen die physiologischen Grundlagen der Umsetzung geschauter Phänomene ins Bildmedium. Helmholtz' Sehkonzept ist das des subjektiven Sehens. Es wird hier im Zusammenhang mit impressionistischer Farbgebung und deren Wirkung eingehend zur Sprache gebracht. Monets Verhältnis zur zeitgenössischen Naturwissenschaft hat vor allem Clemenceau thematisiert und in Verbindung mit Monets Sehweise gebracht. Ich werde erläutern, wie Monets Blick in einer besonderen, 'unzensierten' Wahrnehmungweise fußt, sich in 'gesteigerter Erlebnisbereitschaft' äußert, als 'erweiterte Wahrnehmung' seine Umsetzung der Phänomene lenkte und nun als Vermittlungsstrategie die Wirkung der Bildphänomene bestimmt. In diese Zusammenhänge sind immer wieder Reaktionen und - im Sinne dichter Beschreibung - Deutungen von Betrachtern eingeflochten, die solchen Blick und die Wirkung der Gemälde reflektieren.

Als Sehereignisse sind die Nymphéas im rezeptionsästhetischen Sinne kontextabhängig. Im letzten Drittel des Kapitels untersuche ich deshalb den zeitgenössischen und den veränderten Kontext der Gemälde in der Orangerie, und ich suche zu zeigen, inwiefern veränderter Kontext die Wirkungsweise und damit Bedeutung des Gesamten verändert.

 

Das Phänomen

Nah vor den Nymphéas. Man möchte sie anfassen, diese dick aufgetragene und gespachtelte Farbmasse, mit den Fingerspitzen die Topographie erfühlen - als ob man mit dem verläßlichsten unserer Sinne, denn das ist der Tastsinn, dem Phänomen von Monets Nymphéas sich nähern könnte. Man darf es nicht. Also - sehen: Farbe sieht man, die sich schichtweise überlagert. Manche Schichten sind dick, klumpig und stumpf, andere dünner, glatt und zügig aufgetragen, manche glänzen. An einigen Stellen ist Farbe abgesplittert, oder gekratzt? Dicht und kleinteilig sind die Farbschichten miteinander verwoben (Abb. 3-5).

Das menschliche Auge, heißt es, könne eine Million Farbnuancen unterscheiden. Dafür gibt es keine Wörter. Etwas Bläuliches, kann man sagen, ins Violette spielend. Und gelb, eher hell, eher kühl. Viel Grünes. Gelbgrünes. Blaugrünes. Braungrünes. Durchsetzt mit Rosenfarbenem. Mit Violettgrauem. Ein weißer Farbklumpen scheint direkt aus der Tube auf die Leinwand gedrückt. Ein dünner Farbfaden läßt Monets Handbewegung erahnen (Abb. 6).

Weiß. Also keine Farbe. Oder alle Farben. Denn physikalisch gesehen ist das weiße Farbpigment so beschaffen, daß es Licht jeder sichtbaren Wellenlänge reflektiert und uns deshalb weiß erscheint. Der weiße Klumpen liegt am Rand einer ovalen, rosafarbenen Farbverdichtung, die von grünlich Violettem umgeben ist. Er verkörpert wohl den Reflex des Sonnenlichts am Rand eines Seerosenblattes.

Reflexe erkennt das menschliche Sehvermögen daran, daß sich das Bild des rechten Auges von dem des linken Auges unterscheidet. Der helle Lichtpunkt wird von jedem Auge an einer anderen Stelle des reflektierenden Körpers gesehen, beide Stellen sind seitlich zueinander verschoben. Bewegen sich Auge, reflektierender Körper oder die Beleuchtungsquelle, dann wandern die Reflexpunkte. Das geschieht im Raum. So hat Monet das Funkeln und Spiegeln in seinem Wassergarten gesehen. "Stundenlang", erzählt Monets enger Vertrauter und Freund, der Staatsmann Georges Clemenceau, "verweilte er hier regungslos und schweigsam in seinem Lehnstuhl, forschte mit seinen Blicken und suchte diese Verstecke heller Dinge in ihren vorübereilenden Reflexen, in den nicht zu fassenden Lichtschimmern, in denen die Mysterien sich enthüllen. Monet verachtete die Sprache, weil sie das Schweigen der vergänglichen Harmonien stört. Bedeutet Sehen nicht Verstehen? Und um zu Sehen, muß man Beobachten lernen. Von außen, innen, von allen Seiten beobachten, um die Empfindungen des Menschen in allen Schauern des Weltalls zu fassen. Das Wasser trank das Licht und setzte es um, verfeinerte es in der lebhaftesten Weise, bevor es die Netzhaut empfing."2 Der Garten und Monets Augen: beides sind bewegliche und dynamische Systeme.

Ähnliche Dynamik liegt auch dem Verhältnis von Betrachter und Orangerieraum zugrunde. Der weiße Farbklumpen, der vielleicht einen Reflex meint, reflektiert zugleich das Galerielicht. Doch im Verhältnis zum Gartenraum ist die von der Farbmaterie gebildete Räumlichkeit mikroskopisch. Auch die Lichtverhältnisse, die den Sinneseindruck von Reflexen im Garten und Farbmaterie im Galerieraum bestimmen, sind verschieden. Die physiologischen Grundlagen der verschiedenartigen Sinneseindrücke lassen die Unterschiede zwischen der Wirkung von Monets Sujet und seiner Malerei näher bestimmen.

 

 


Home

Inhalt

Weiter


 1 Datierung nach Gustave Geffroy. Monet schrieb am 22. Juni 1890: "Wieder einmal habe ich mir etwas Unmögliches vorgenommen: Wasser mit Gräsern, die sich auf dem Grund bewegen ... (sic) es ist wunderbar anzusehen, aber ein Wahnsinn, es wiedergeben zu wollen. Na ja, ich suche mir ja immer so etwas heraus!" (Monet, zit. nach Gustave Geffroy: Monet: Sa vie, son œuvre (1924). Deutsch in: Stuckey, 1994, S. 156.)

2 Clemenceau, 1929, S. 70f.


Home

Inhalt

Weiter