Geschichtlichkeit des Betrachters
Die Erfahrung des Horizonts schien zu einem bestimmten, historisch
festlegbaren Zeitpunkt auf. Sie ist veränderlich. Insofern
kann das Potential an Erfahrungen, das das Panorama für
den Betrachter des 19. Jahrhunderts bereithielt, nicht übertragen
werden auf andere Zeiten. Inwiefern die Möglichkeit von
Erfahrungen in Mesdags Panorama sich für heutige Besucher
verändert hat, zeigen Äußerungen von James Turrell
- ein Künstler der sich in besonderer Weise mit der Wahrnehmung
von Lichträumen beschäftigt. Turrell hat den Sprung
von der Camera-obscura-artigen Wahrnehmung, die Mesdags Panorama
zugrundelag, zur subjektiven Wahrnehmung, die aller Kunst des
20. Jahrhunderts mehr oder weniger explizit zugrundeliegt, längst
vollzogen.
In veränderten Wahrnehmungsweisen zeigt sich erneut ästhetische
Differenz: daß Bilder etwas von der Wirklichkeit Verschiedenes
sind und daß Bilder sich wie die Wirklichkeit verändern
unter dem veränderlichen Blick ihrer Betrachter. Am illusionistischsten
Medium des 19. Jahrhunderts wird das in besonderer Weise deutlich.
James Turrell betrachtet von seinem eigenen Werk aus Mesdags
Panorama. In seiner Perzeption und Reflexion der Illusion scheint
Wirklichkeitsverständnis auf, und zugleich beschreibt Turrell
das Bildungsmoment von Mesdags Panorama: "Ich habe mit der
Illusion der Realität nichts im Sinn. Natürlich ist
es hübsch, daß man in Mesdags Panorama einfach im
19. Jahrhundert spazierengehen kann, doch meiner Meinung nach
liegt darin nicht seine expressive Kraft. Was mich fasziniert
ist, daß Mesdag einen Raum geschaffen hat, der uns unsere
eigene Wahrnehmung gewahr werden läßt. Für mich
handelt das Panorama zuallererst von Wahrnehmung."1
Turrell glaubt, daß Mesdags Panorama auf seine eigene Weise
dem Betrachter seine Wahrnehmung ins Bewußtsein zu rufen
vermag. Ein Effekt der Erzeugung der 'illusion complète'
ist, daß es dem Betrachter unmöglich ist, seine tatsächliche
Entfernung zur Leinwand auszumachen. "Bis auf den gemalten
Horizont hat das Auge nichts, an dem es sich festhalten kann
und es fährt fort, den Raum und die Leinwand abzutasten."2 Nach Turrell blickt man nicht auf ein Gemälde,
sondern man ist ein Teil davon geworden. Die besondere Weise
des Einbezugs der Betrachter ermöglicht ihre Teilnahme an
der Inszenierung.
Turrell beschreibt eine Möglichkeit der Erfahrung in Mesdags
Panorama, die dem konstruktiven Charakter seiner Vermittlungsstrategie
vollkommen entgegenzulaufen scheint, und die vielmehr in einer
Weise der Wirklichkeitswahrnehmung fußt, die von jeder
Beschränkung frei zu sein scheint: "Gelingt es, sich
im Raum von Mesdags Panorama zu verlieren, so daß man vor
sich hinstarrt, wie man vielleicht in ein Lagerfeuer blicken
würde oder auf Meereswellen, dann kann man das sogar als
ein meditatives Erlebnis bezeichnen. Man wird sich des Raums
und des Lichts bewußt und erkennt, daß dieses Panorama
von Wahrnehmung handelt. Vom Sehen auf die eigene Weise des Sehens."3
Turrells Betrachtungsweise weist auf Verschiedenes: Zum ersten
haben wir die konstruktive Basis von Mesdags Panorama - das perspektivische
Sehen und die Wahrnehmung von Horizonten - in einer Weise verinnerlicht,
daß uns nichts als etwas 'Gemachtes' auffällt. Wir
sind deshalb, am Ende doch wieder unabhängig von der Konstruktion
(im Sinne des darüber Hinwegsehens), zu meditativer Versenkung
fähig. Zum zweiten zeigt sich in Turrells Betrachtungsweise
die Veränderlichkeit von Wahrnehmungsweisen, und in welch
fundamentaler Weise die Konstitution des Betrachters - im rezeptionsästhetischen
Sinne selbst eine Leerstelle - Wirklichkeit schafft und verändert.
So ermöglicht das reale Panorama, begreift man die Perzeption
der Betrachter als historisch veränderlich, in seiner hochtechnischen
Inszenierung ein Panorama von Wahrnehmungsweisen und vielfältigen,
auch disparaten, Erfahrungsmöglichkeiten. Erfahrung läßt
sich durch Modelle nicht festlegen. Für Turrell ist Mesdags
Panorama weit entfernt vom anekdotischen Charakter, der den meisten
Panoramen anhaftet: "In diesem Panorama sieht man Mesdags
Weise, auf die Dinge zu sehen. Dadurch sieht man Details, die
man sonst übersehen würde. Doch dann - und das macht
es wirklich interessant - geht der eigene Blick in das Panorama
ein... Der Blick wird nicht von einem bestimmten Ereignis gehalten,
sondern er schweift. Genauso wie in der Wirklichkeit. Dadurch
wird das Panorama zu einer subjektiven visuellen Erfahrung, zu
einer Erfahrung, durch die man vorbereitet wird, sich zu verlieren
und seinen Augen zu trauen."4