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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Geschichtlichkeit des Betrachters

 

Die Erfahrung des Horizonts schien zu einem bestimmten, historisch festlegbaren Zeitpunkt auf. Sie ist veränderlich. Insofern kann das Potential an Erfahrungen, das das Panorama für den Betrachter des 19. Jahrhunderts bereithielt, nicht übertragen werden auf andere Zeiten. Inwiefern die Möglichkeit von Erfahrungen in Mesdags Panorama sich für heutige Besucher verändert hat, zeigen Äußerungen von James Turrell - ein Künstler der sich in besonderer Weise mit der Wahrnehmung von Lichträumen beschäftigt. Turrell hat den Sprung von der Camera-obscura-artigen Wahrnehmung, die Mesdags Panorama zugrundelag, zur subjektiven Wahrnehmung, die aller Kunst des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger explizit zugrundeliegt, längst vollzogen.

In veränderten Wahrnehmungsweisen zeigt sich erneut ästhetische Differenz: daß Bilder etwas von der Wirklichkeit Verschiedenes sind und daß Bilder sich wie die Wirklichkeit verändern unter dem veränderlichen Blick ihrer Betrachter. Am illusionistischsten Medium des 19. Jahrhunderts wird das in besonderer Weise deutlich. James Turrell betrachtet von seinem eigenen Werk aus Mesdags Panorama. In seiner Perzeption und Reflexion der Illusion scheint Wirklichkeitsverständnis auf, und zugleich beschreibt Turrell das Bildungsmoment von Mesdags Panorama: "Ich habe mit der Illusion der Realität nichts im Sinn. Natürlich ist es hübsch, daß man in Mesdags Panorama einfach im 19. Jahrhundert spazierengehen kann, doch meiner Meinung nach liegt darin nicht seine expressive Kraft. Was mich fasziniert ist, daß Mesdag einen Raum geschaffen hat, der uns unsere eigene Wahrnehmung gewahr werden läßt. Für mich handelt das Panorama zuallererst von Wahrnehmung."1 Turrell glaubt, daß Mesdags Panorama auf seine eigene Weise dem Betrachter seine Wahrnehmung ins Bewußtsein zu rufen vermag. Ein Effekt der Erzeugung der 'illusion complète' ist, daß es dem Betrachter unmöglich ist, seine tatsächliche Entfernung zur Leinwand auszumachen. "Bis auf den gemalten Horizont hat das Auge nichts, an dem es sich festhalten kann und es fährt fort, den Raum und die Leinwand abzutasten."2 Nach Turrell blickt man nicht auf ein Gemälde, sondern man ist ein Teil davon geworden. Die besondere Weise des Einbezugs der Betrachter ermöglicht ihre Teilnahme an der Inszenierung.

Turrell beschreibt eine Möglichkeit der Erfahrung in Mesdags Panorama, die dem konstruktiven Charakter seiner Vermittlungsstrategie vollkommen entgegenzulaufen scheint, und die vielmehr in einer Weise der Wirklichkeitswahrnehmung fußt, die von jeder Beschränkung frei zu sein scheint: "Gelingt es, sich im Raum von Mesdags Panorama zu verlieren, so daß man vor sich hinstarrt, wie man vielleicht in ein Lagerfeuer blicken würde oder auf Meereswellen, dann kann man das sogar als ein meditatives Erlebnis bezeichnen. Man wird sich des Raums und des Lichts bewußt und erkennt, daß dieses Panorama von Wahrnehmung handelt. Vom Sehen auf die eigene Weise des Sehens."3 Turrells Betrachtungsweise weist auf Verschiedenes: Zum ersten haben wir die konstruktive Basis von Mesdags Panorama - das perspektivische Sehen und die Wahrnehmung von Horizonten - in einer Weise verinnerlicht, daß uns nichts als etwas 'Gemachtes' auffällt. Wir sind deshalb, am Ende doch wieder unabhängig von der Konstruktion (im Sinne des darüber Hinwegsehens), zu meditativer Versenkung fähig. Zum zweiten zeigt sich in Turrells Betrachtungsweise die Veränderlichkeit von Wahrnehmungsweisen, und in welch fundamentaler Weise die Konstitution des Betrachters - im rezeptionsästhetischen Sinne selbst eine Leerstelle - Wirklichkeit schafft und verändert. So ermöglicht das reale Panorama, begreift man die Perzeption der Betrachter als historisch veränderlich, in seiner hochtechnischen Inszenierung ein Panorama von Wahrnehmungsweisen und vielfältigen, auch disparaten, Erfahrungsmöglichkeiten. Erfahrung läßt sich durch Modelle nicht festlegen. Für Turrell ist Mesdags Panorama weit entfernt vom anekdotischen Charakter, der den meisten Panoramen anhaftet: "In diesem Panorama sieht man Mesdags Weise, auf die Dinge zu sehen. Dadurch sieht man Details, die man sonst übersehen würde. Doch dann - und das macht es wirklich interessant - geht der eigene Blick in das Panorama ein... Der Blick wird nicht von einem bestimmten Ereignis gehalten, sondern er schweift. Genauso wie in der Wirklichkeit. Dadurch wird das Panorama zu einer subjektiven visuellen Erfahrung, zu einer Erfahrung, durch die man vorbereitet wird, sich zu verlieren und seinen Augen zu trauen."4


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 1 "I'm not concerned with the illusion of reality. It's nice, of course, that in the Mesdag Panorama you can simply walk in on the nineteenth century, but to my mind that's not where its real expressive power lies. What fascinates me is that Mesdag has created a space that makes you aware of your own perception. For me, the Panorama is first and foremost about perception." (Turrell, 1996, S. 183.)

2 "Save for the painted horizon, the eye has nothing to hold on to and continues to scan the space and the canvas. According to Turrell, you are not looking at a painting but have become a part of it." (Turrell, 1996, S. 183.)

3 "If you manage to lose yourself in the space of the Mesdag Panorama, staring as you might stare into a camp fire or at the waves in the sea, you might even call it a meditative experience. You become aware of the space and the light, and realize that this Panorama is about perception. About looking at your own way of looking." (Turrell, 1996, S. 185.)

4 "In this panorama you see Mesdag's way of looking at things, which makes you aware of details you would otherwise have missed. But then - and that is what makes it really interesting - your own way of looking enters into it as well... Your gaze is not drawn to the canvas by a particular event, but is free to roam. Just as it is in reality. That turns the Panorama into a subjective visual experience, one in which you are prepared to lose yourself and to believe your eyes." (Turrell, 1996, S. 185.)


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