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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Mesdags Camera obscura

 

Die panoramatischen Allansichten gehen auf die Vedute zurück. Um die Schwierigkeiten der Perspektive problemlos meistern zu können, benutzten Vedutenmaler die - eigentlich als 'unkünstlerisch' verpönte1 - Camera obscura als Zeichenkamera. Die Camera obscura nutzten auch die Panoramamaler. Später setzten sie Daguerreotypien für die Aufnahme der Allansichten ein. "Die mit Hilfe der Camera Obscura gefertigten Bilder unterschieden sich nun aber grundlegend von denen der Idealen Landschaftsmalerei: sie waren eindeutig und unübersehbar Ausschnitte aus einer Landschaft... Die aus lauter 'Nebensächlichkeiten' und Zufälligkeiten zusammengesetzte Vedute verwies nicht mehr auf ein bestimmtes Sinngefüge, das im idealen Landschaftsbild durch den Fernblick auf einen wichtigen Fluchtpunkt hin symbolisiert wurde, sondern verwies nur noch auf die außerhalb des Ausschnitts liegenden, nicht abgebildeten Nebensächlichkeiten. Die dargestellten Einzelheiten hatten nicht mehr einen Fluchtpunkt, auf den sie sich bezogen, sondern die unzähligen Details wurden nur noch vom Horizont zusammengehalten... Die Entdeckung der Ausschnitthaftigkeit koinzidierte mit der Erfahrung des Horizonts. Mit einem Wort: der Ausschnitt drängte zur Vervollständigung."2 Insofern kann man das Panorama als eine Folgeerscheinung der Vedute begreifen.

Für die Vedute wie für das Panorama wird im Unterschied zur komponierten Ideallandschaft die Wahl des Standpunkts maßgeblich, "die noch vor der eigentlichen Ausführung des Bildes über seinen Wert oder Unwert entschied; ja, man kann sagen, daß bereits auf dieser historischen Stufe tendenziell der künstlerische Akt auf die richtige Wahl des Standorts reduziert wird, wie es später fundamental für die fotografische Aufnahme zutreffen wird."3 Die Wahl des Standpunkts war zugleich die einzige freie Entscheidung, die Panoramamaler treffen konnten, da die getreue Wiedergabe von allem gefordert war, das von diesem Standpunkt aus erscheint.

Mesdag hat für die Anlage der tiefenräumlichen Darstellung seines Panoramas ein Camera obscura-analoges Verfahren benutzt. Die Vorform dieses Verfahrens - eine Vereinfachung von Dürers Hilfsmitteln für die perspektivische Konstruktion4 - hat Mesdag während seiner Lehrzeit in Brüssel für sich entdeckt. "Anna Croiset van der Kop, Biographin und Freundin der Mesdags, schrieb 1891 über Mesdags Periode in Brüssel: 'Als die Straßenstudien abgerundet waren, nahm Mesdag etwas weiter vom Zentrum der Stadt entfernt ein Atelier in der Rue Van de Weyer. Dort begann er von seinem Fenster aus zu malen, und zwar auf sehr eigenartige Weise. Auf den Fensterscheiben gab er in den richtigen Verhältnissen an, was er draussen sah, übertrug es auf durchscheinendes Papier und vergrößerte es auf seine Leinwand. Mehr als ein Bild kam auf diese Art und Weise zustande, unter anderem zwei große Gemälde, auf denen Gelände außerhalb Brüssels dargestellt sind.'"5 Gemäß der Lehre Roelofs hat Mesdag seine Landschaften nicht komponiert, sondern mit Hilfe des beschriebenen Verfahrens Ausschnitte gewählt (Roelofs benutzte dazu einen hölzernen Rahmen, in welchem eine horizontale und eine vertikale Schnur aufgespannt waren). War das Sujet gefunden, so wurde es - virtuell unverändert - auf die Leinwand übertragen. "Diese Künstler", schreibt Leeman, "erlaubten der Natur, ihre Komposition zu diktieren. Das war natürlich eine Herangehensweise, die jener der Fotografen folgte. Doch das hatte noch eine andere Konsequenz: anstatt eine in sich selbst abgeschlossene Miniaturwelt zu sein, wurde das Gemälde zu einem wohlüberlegten Ausschnitt aus einem größeren Ganzen."6 Mesdag variierte die Ausschnitte, die er von seinem Fenster aus festlegen konnte. Beispielsweise überlappen sich zwei seiner Landschaften und können aneinandergelegt werden. "Diese Gemälde ebneten methodisch - indem die Natur direkt auf ein transparentes Medium kopiert wurde - und bezüglich der Wahl des Sujets - Ansichten von relativ gewöhnlicher Szenerie - den Weg für das Panorama."7

Für das Panorama hat Mesdag sein in Brüssel entwickeltes Verfahren modifiziert.8 Anstelle einer planen Scheibe benutzte er einen aus zwei Hälften bestehenden Glaszylinder von 40 cm Höhe und 70 cm Durchmesser (Abb. 12, 13). Mesdag hat diesen Zylinder auf der Seinpostduin in Augenhöhe aufgestellt. Er stellte sich in die Mitte des Zylinders, und konnte so die umgebende Szene abzirkeln. Mit flüchtigen Strichen weißer Farbe hielt er die Konturen der umliegenden Landschaft auf dem Glas fest. Dann legte er Transparentpapier um den Glaszylinder und übertrug die Konturen. Auf dieser Grundlage erstellte er die maßgebliche Studie für das Panorama vor Ort.9 Die Details - Schiffe, Menschen, Häuser - sind nach Einzelstudien in die Gesamtkomposition eingefügt.10

Mit dem Glaszylinder hat Mesdag sein Auge zu den Augenpunkten einer Art polyperspektivischen Camera obscura gemacht. Die Verwendung dieser fotografischen Methode hängt zusammen mit der empirisch fundierten Naturbetrachtung im 19. Jahrhundert. In der Detailtreue, die man der Fotografie zuschrieb, sah man ein wesentliches Korrektiv zur subjektiven Einflußnahme des Künstlers, und Mesdag wollte die Ansicht Scheveningens getreu dem Vorbild und mit dokumentarischen Absichten für die Nachwelt festhalten.11 Mit der Fotografie schien erstmals ein Medium gegeben, das sich jeder menschlichen Einflußnahme entzog. Nicht der Fotograf, sondern der Apparat wurde als Schöpfer der Aufnahme betrachtet. "Die Tatsache, daß ein Apparat als 'kreatives' Medium fungiert, suggeriert, daß die Realität sich durch sich selbst darstellt."12 Die fotografische Methode schien dem Ansinnen, ein 'wahres' Bild herstellen zu wollen, denkbar nahe zu kommen. Das Streben nach vollkommener Illusion der Wirklichkeit ging einher mit dem Streben nach größtmöglicher Exaktheit der Abbildung. Um diese Exaktheit zu erreichen, benutzten die Panoramamaler die Camera obscura.13

Die Besucher der Panoramen hatten mit dem wahrheitsversprechenden fotoanalogen Bild am 'Schein das Wahre'. "Nur bedeutete hier das Wahre nicht eine hinter den Dingen liegende Wirklichkeit, sondern die exakte Reproduktion der materialen Fakten."14

 


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 1 "Canaletto ... konnte zeitlebens seinen extensiven Gebrauch dieses Hilfsmittels verbergen; erst mathematische Analysen seiner Perspektive brachten es in diesem Jahrhundert ans Licht." (Oettermann, 1980, S. 24.)

2 Oettermann, 1980, S. 24.

3 Oettermann, 1980, S. 25.

4 Pavel Florenskij erläutert vier Zeichenkonstruktionen Dürers, die zunehmend vom Sehen unabhängig werden. "Bei der vierten ... Zeichenkonstruktion kann auf das Sehen überhaupt verzichtet werden, denn hierbei genügt schon der Tastsinn. Der Aufbau ist folgender: In die Wand des Zimmers ... wird eine lange Nadel mit einer breiten Öse eingeschlagen. Durch die Öse wird ein langer und fester Faden gezogen und dort an der Wand wird an diesem Faden ein Gewicht befestigt. Der Wand gegenüber steht ein Tisch samt einem vertikal auf ihm stehenden Rahmen. An einer Außenseite des Rahmens wird eine kleine Tür befestigt, welche sich öffnen und schließen läßt. In die Rahmenöffnung wird ein Fadenkreuz gespannt... Jetzt wird der Faden durch den Rahmen geführt und an seinem Ende ein Nagel befestigt... Einem Helfer wird der Nagel in die Hand gegeben, der den langen Faden mit dem Auftrag spannt, mittels des Nagelkopfes nun alle wichtigen Punkte des Darstellungsobjekts zu berühren. Daraufhin verschiebt der 'Künstler' die Fäden des Rahmens solange, bis sie mit dem langen Faden zusammenstoßen ... [Zuletzt legt der Künstler] das Türchen um und kennzeichnet auf der Tür die Stelle, an der sich die Fäden gekreuzt haben. Wiederholt man das oft genug, so kann man auf der beschriebenen Tür die wichtigsten Punkte der benötigten Projektion kennzeichnen." (Florenskij, 1920, S. 50f., Abb.11)

5 Poort, 1994, S. 30f.

6 "These artists allowed nature to dictate their composition, an approach that was, of course, modelled on the photographer's. But it had yet another important consequence: instead of being a self-enclose miniature world, a painting became a deliberate selection from a larger whole." (Leeman, 1996, S. 46.)

7 "Both in method - copying nature directly onto a transparent medium - and in the choice of subject matter - views of relatively ordinary scenery - these paintings paved the way for the Panorama." (Leeman, 1996, S. 48.)

8 Oettermann weist darauf hin, daß die im 18. Jahrhundert gebräuchlichen panoramaartigen Rundprospekte um 1800 nicht mehr in Gebrauch waren, und daß die Technik, auf gekrümmten Leinwänden ein perspektivisch richtiges Bild zu zeichnen, in Vergessenheit geraten war. (Vgl. Oettermann, 1980, S. 20.) Dies erklärt die Entwicklung eines eigenen Verfahrens durch Mesdag.

9 Eine komplette Studie vor Ort zu malen war notwendig, um die erwünschte einheitliche Wirkung bezüglich Jahreszeit und Wetterkonditionen zu erhalten. Daß die Studie tatsächlich vor Ort entstanden ist, belegt die Aussage eines früheren Restaurators, der berichtete, daß er die Sandkörner entfernt habe, die auf der Studie klebten.

10 Mesdag hat nicht alle Details eigenhändig ausgeführt. Panoramen waren fast immer Gemeinschaftswerke (Vgl. Wolfgang Kemp: Die Revolutionierung der Medien im 19. Jahrhundert. Das Beispiel Panorama. Kemp, 1991, S. 75ff.). Die Landschaft hat vermutlich hauptsächlich de Bock gemalt, die Pferde und die Kavalleriegruppe gehen auf Breitner zurück, See und Strand sind wohl Mesdags eigenhändiges Werk. (Vgl. van Eekelen, 1996a, S. 95ff.)

11 Das steht nur scheinbar im Widerspruch zu Mesdags Selbstverständnis als Künstler, denn wie oben gezeigt wurde, sah Mesdag sich als realistischen Landschaftsmaler, der die Natur sprechen lassen wollte.
Die historische Genauigkeit hätte mit größerer Leichtigkeit von der Fotografie geleistet werden können. Die Vorzüge des Panoramas bestehen nach Buddemeier darin, "einen entlegenen Ort und ein vergangenes Ereignis völlig präsent zu machen und den Betrachter damit total in Anspruch zu nehmen. Eine Photographie hingegen, wie exakt sie auch sein mag, bietet immer nur einen Ausschnitt und besetzt auch das Beobachtungsfeld des Betrachters nur ausschnitthaft... Das Panorama schaffte, indem es ein historisches Ereignis in seiner Totalität festhielt ... der Erinnerung einen Ort." (Buddemeier, 1970, S. 50.) Für die Rezeption spielt die Maßstabsfrage eine entscheidende Rolle. Eine künstliche Umwelt kann nur dann analog der Wirklichen rezipiert werden, wenn sie in naturgetreuer Maßstäblichkeit erscheint, d.h. wenn die visuelle Erscheinung das Gesichtsfeld in ganz ähnlicher Weise affiziert wie die natürliche Umwelt.

12 Keith Trieb, zit. nach: Taureg, 1990, S. 218.

13 Die Camera obscura wurde drehbar "über einem fixierten Punkt montiert, und nachdem man sie mit einer Wasserwaage genau auf den Horizont justiert hatte, brauchte man nur noch den jeweils auf der Mattscheibe erscheinenden Landschaftsausschnitt nachzuzeichnen." (Oettermann, 1980, S. 43.) Es wurden so viele Einzelbilder gezeichnet, bis man einen geschlossenen Kreis hatte.

14 Buddemeier, 1970, S. 18.


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