Zurück
Gabriele Schmid:  Illusionsräume
Home

 

Trompe l'œil und ästhetische Differenz

 

Realismus der Darstellung, täuschende Wirkung und Rechnen mit dem Betrachter: Das alles sind Merkmale des Trompe-l'œil, das gleichfalls häufig unter dem Blickwinkel des Betrugs gesehen wurde.

Miriam Milman definiert die realistische Darstellung der Details und das Schaffen eines Raumeindrucks als zwei Grundbedingungen illusionistischer Kunstwerke.1 Im Trompe-l'œil müssen naturgetreue Maßstäbe wiedergegeben sein, und es muß sich in seine Umwelt vollkommen integrieren. Diese Voraussetzungen sind in Mesdags Panorama gegeben. Das Panorama schafft mit Hilfe einer modifizierten Zentralperspektive und mittels realistischer Darstellungsweise einen illlusionistischen Raumeindruck. Die Maßstabsfrage wird durch die Darstellung einer Fernsicht nur mittelbar tangiert, die nahen Gegenstände (die gebauten und eingefügten Versatzstücke des faux terrain) sind von natürlichem Maßstab. Und schließlich sind Panoramen als hermetische Wahrnehmungsräume konzipiert. Insofern gibt es keine Umwelt, in die sie integriert werden müßten.

Trompe-l'œils sind im Allgemeinen auf Überraschungseffekte hin angelegt: Der Betrachter soll im ersten Moment von der Wirklichkeit des Dargestellten überzeugt werden. Panoramen wurden mit derartiger Erwartungshaltung rezipiert, doch erfuhr sie eine Irritation. Milman beschreibt als eine der Voraussetzungen für das Funktionieren des Trompe-l'œil die Vermeidung der Darstellung von bewegten Szenen und von menschlichen Figuren überhaupt, denn die erstarrte Szene beeinträchtige die täuschende Wirkung. Daß Szenerien in Panoramen wie erstarrt wirkten, wurde in zeitgenössischen Kommentaren oft erwähnt. Schon J.A. Eberhard, ein scharfer Kritiker der Panoramen, hat in seinem 'Handbuch der Ästhetik' von 1807 die Präsentation des "todten Leichnahms der Natur"2 moniert. Eine ähnliche Erfahrung mit ganz anderer Deutung spiegeln zwei autobiographische Reflexionen zu Mesdags Panorama. Marten Toonder und Paul Verhoeven berichten über ihre erste Begegnung mit Mesdags Panorama, bei der beide ungefähr sechs Jahre alt waren. Übereinstimmend beschreiben sie ihren Schrecken angesichts der Stille und Bewegungslosigkeit.

Toonder beschreibt sein Erlebnis aus der Sicht des Sechsjährigen: "Etwas sehr merkwürdiges war im Gange, etwas, das mir Angst machte. Der Strand war natürlich nur ein Strand, doch etwas Furchtbares war geschehen... Das Meer bewegte sich nicht länger... Das Meer lag unbeweglich ... und versuchte nicht mehr, den Strand zu erreichen... Etwas Furchtbares mußte geschehen sein, das war sicher... Alles war still. Ja, es war auch diese ungeheure Stille, die so beängstigend war. Kein Donnern der Brandung und kein Rauschen sich überschlagender Wellen... Nichts mehr. Als ich da stand und atemlos umherblickte, dämmerte mir, daß hier ein Zauberer am Werk gewesen sein mußte. Keine gewöhnliche Hexe, die einen in einen Frosch verwandeln kann, sondern ein wirklicher, außergewöhnlich mächtiger Zauberer.3

Der Filmregisseur Paul Verhoeven deutet sein Erlebnis im Blick auf das später gewählte Medium: "Als ich das erste Mal in den vierziger Jahren dort mit meinem Vater hinging - ich war zu der Zeit fünf oder sechs Jahre alt - konnte ich fühlen, wie ich von einer gefrorenen Realität überwältigt wurde. Als ob ich in der Zeit festhängen würde. Es dauerte eine Weile ... bevor mir dämmerte, daß dies eine Realität war, die nicht existieren konnte. Diese Unverständlichkeit war für mich magisch... Sie hat einen Ton angestimmt, der in meinem Leben und in meinem Werk immer wieder anklingt. Dieses fast religiöse Erlebnis eines Wunders, das sich am Ende als überhaupt kein Wunder herausstellt. Die sorgfältig reproduzierte Realität, die tatsächlich ein Trompe-l'œil ist. Es war diese Erfahrung in Mesdags Panorama, die mich als Kind gewahr werden ließ, daß Realität mehr scheinen kann als sie ist. Das Panorama war für mich, was eine Messe für einen anderen ist, die Wahrnehmung einer anderen Welt, wenn auch in einem säkularen Sinne."4

Im Rückblick deutet Verhoeven das magische Moment des Panoramas als Kunsterlebnis: "Ich weiß natürlich, daß das Transzendente nur existiert, wenn man sich seiner Anwesenheit bewußt ist. Und daß es möglich ist, all dem, was die Realität transzendiert, einen realistischen Anstrich zu geben. So wie man Mesdags Panorama auf eine Ansammlung von Farben und Pinselstrichen reduzieren kann. Die andere Welt kann nicht bewiesen werden, die einzige Erklärung für ihre Existenz ist ihr Geheimnis. Das ist etwas, was ich dann und wann in mir selbst spüre. Wenn ich in Scheveningen stehe und auf zwei Boote im Hafen blicke, ist es schwer, ein Geheimnis zu sehen. Es geschieht jedoch, wenn ich einen Van Gogh ansehe, einen Monet, einen Weissenbruch oder einen Mesdag. Bisher hat noch niemand genau sagen können, worin der Unterschied bestehen könnte."5

Toonders und Verhoevens Reflexionen spiegeln das Befremden angesichts einer Wirklichkeit, die sich von der alltäglich vertrauten wesentlich unterscheidet: Es bewegt sich nichts. Derartige Erfahrungen weisen auf das Bildungsmoment des Panoramas: Toonder und Verhoeven erfahren gleichsam zum ersten Mal ästhetische Differenz. Diese Erfahrung war für beide so neu, daß sie hier, vor Ort, lernen mußten, die ungewohnte Situation zu bewältigen.6 Das tun beide deutend. Die Darstellung der Wirklichkeit stimmt mit ihrem lebensgeschichtlich erfahrenen Vorwissen in so Wesentlichem nicht überein, daß beide das Panoramaerlebnis als 'magisch' beschreiben: als ein Erlebnis, das sich von alltäglicher Wirklichkeitserfahrung abhebt. So, in der Erfahrung von Brüchen, vollzieht sich lebensgeschichtliches Lernen.

Die beschriebene Erfahrung ästhetischer Differenz scheint dem Anspruch des Panoramas, die Realität so wiederzugeben, wie sie tatsächlich ist, zu widersprechen. Naturanaloge Wirkung war jedoch wohl mehr ein Wunsch solcher Theoretiker, die Kunstwirkung in Analogie zu (unübertreffbarer) Naturwirkung setzten. Tatsächlich ereignet hat sie sich - aufgrund des mitgebrachten Vorwissens des mit naturalistischer Darstellung vertrauten Publikums - vermutlich kaum.7

Die Wirkung des Panoramas beruht auf der den Besuchern bewußten ästhetischen Differenz zwischen Inszenierung und Wirklichkeit. Die Anziehungskraft der Rotunden hängt mit der Bereitschaft der Besucher zusammen, das Interaktionsangebot anzunehmen. Der Effekt hängt nicht nur mit der illusionistischen Machart zusammen, sondern auch mit erlernten Rezeptionsweisen: Bilder als Abbilder der Wirklichkeit zu erkennen und (vor allem) zu akzeptieren. Zum Beispiel haben wir gelernt, Größenunterschiede als tiefenräumliche Staffelung zu lesen, und wir wenden dieses - automatisierte - Wissen an auf die Wirklichkeit und deren Nachbildung. Zugleich mit der Rezeption des Gemalten als Illusion der Wirklichkeit wissen wir, daß wir es mit einer bemalten Oberfläche zu tun haben. Es ist bekannt und gelernt (deshalb nicht notwendigerweise zugleich reflektiert), daß nicht die Wirklichkeit selbst sich auf der Leinwand befindet.8 Das Wissen um ästhetische Differenz zwischen Wirklichkeit und ihrer Darstellung ist sogar ein Hauptgrund für das Vergnügen, mit dem illusionistische Darstellungen betrachtet wurden und werden. Dem anfänglichen Überraschungseffekt, der Täuschung, folgt Ent-täuschung. Beim Entschlüsseln des Täuschungsmanövers erfahren die Betrachter ihre Kompetenz im Umgang mit dem Medium. Insofern hält das Panorama für seine Betrachter ein medienspezifisches Bildungserlebnis der Möglichkeit nach bereit: Die Betrachter werden in die Lage versetzt, ihre medialen Lernprozesse vor Ort zu reflektieren.

Mesdag gibt in seinem Rundumgemälde einen Hinweis auf die ästhetische Differenz zwischen Wirklichkeit und Darstellung, indem er seine malende Frau darstellt (Abb. 7). Das Bild im Bild fungiert innerhalb der illusionistischen Darstellung als Vermittlungsstrategie im Blick auf die Reflexion der illusionistischen Darstellungsweise anhand illusionistischer Darstellungsmittel. Miriam Milman fordert, daß das Trompe-l'œil neben dem Überraschungsmoment tiefgründiger sein müsse, um auch den erfahrenen Kenner ansprechen zu können. "Das heißt, es sollte eine Botschaft vermitteln oder zum Dialog einladen. Findet eine Begegnung zwischen Darstellung und Betrachter auf dieser zweiten Wahrnehmungsstufe nicht statt, dann bleibt das Trompe-l'œil dem Betrug verhaftet."9 Die illusionistische Darstellung im Panorama gewinnt als mediales Bildungserlebnis eine Sinnperspektive durch die Ermöglichung der Reflexion des Bildes durch das Bild. Solche, auf wahrnehmendem Erkennen gründende Reflexion kann möglicherweise aus dem hermetischen Wahrnehmungsraum 'Panorama' zurückführen zur Reflexion des Sehens selbst. Die Vermittlungsstrategie des Panoramas ermöglicht diese Reflexion. Das ist die perspektivische Darstellungsweise, die die Betrachter gelernt haben zu entziffern und zu deuten als Abbild der Wirklichkeit.

 


Home

Inhalt

Weiter


 1 Milman, 1984, S. 6.

2 Vgl. Anm. 1, I.4

3 "Something very strange was going on, something that terrified me. The beach was just a beach of course, but something terrible had happened to it... the sea was no longer moving... The sea lay immobile ... and didn't try any more to reach the esplanade... something dreadful must have happened, that was obvious... Everything was still. Yes, it was also this tremendous silence that was so terrifying. No pounding of the surf and no rustle of lapping waves ... Nothing anymore... [Stille ist heute durch das dauernde Vorführen eines Tonbandes, welches das Bild wie der Klavierspieler den Stummfilm akustisch kommentiert, nicht mehr erfahrbar.] As I stood there looking breathlessly around, it slowly dawned on me that there must have been a magician at work here. No ordinary witch, who can change you into a frog, but a real, extraordinary powerful magician." (Toonder, 1996, S. 167)

4 "When I went there for the first time in the forties with my father - I was five or six years old at that time - I could feel myself beeing overcome by the frozen reality. As if I had been suspended in time. It took a while ... before it dawned to me that this was a reality that could not exist. That incomprehension was magical for me... It has set a tone that resounds over and over again in my life and in my work. That near-religious experience of a miracle, which in the end turns out to be no miracle at all. The carefully reproduced reality that is in fact a trompe l'œil. It was that experience in the Mesdag Panorama which first made me aware, as a child, that reality can seem more than it is. The Panorama was for me what a Mass is for another, the perception of another world, albeit in a secular sense." (Verhoeven, 1996, S. 175.)

5 "I know of course, that the transcendent only exists if you are aware that it is there. And that it is possible to give a realistic account of everything that 'transcends reality'. Just as you can reduce the Mesdag Panorama to a collection of colours and brush strokes. That other world cannot possibly be shown; the only explanation of its existence is its mystery. This is something I feel now and then myself. When I stand in Scheveningen looking at two boats in the harbour it is hard to visualize a mystery. It happens, however, when I look at a Van Gogh, a Monet, a Weissenbruch or a Mesdag. Yet no one can say precisely what the difference might be." (Verhoeven, 1996, S. 177.)

6 Vgl. hierzu Theodor Schulzes Definition eines phänomenologischen Lernbegriffs. Schulze, 1993c, S. 252.

7 Das zeigt nicht zuletzt die Ironie, mit der die täuschende Wirkung des Panoramas von Beginn an auch beschrieben wurde. Der Göttinger Taschenkalender von 1794 berichtete das erste Mal in Deutschland über ein Panorama, das 'Panorama von Spithead' von Barker. Es zeigte eine vor Spithead ankernde russische Kriegsflotte. Der Rezensent, der das Panorama selbst offensichtlich nicht gesehen hat, berichtet, wie die täuschende Wirkung zustandekommt: "Um aber ... die Illusion aufs höchste zu treiben, so ist der Standort für die Zuschauer, das Verdeck eines Schiffes, das mitten unter den gemahlten Schiffen auf demselben gemahlten Meere liegt... Auch wird man, natürlich, den Fußboden des Gebäudes als Meeresfläche behandelt, und mit Widerscheinen und anderen Gegenständen versehen haben, die den angenehmen Betrug unterhalten. Der Gedanke hat etwas sehr schönes, und von einer Meisterhand ... behandelt, muß es einen hinreissenden Effekt thun. Es wurde in der Erzählung gesagt, es wären einige Damen (was doch den Damen nicht alles möglich ist) durch den Anblick seekrank geworden. Wenn sie es vorher schon einmahl gewesen sind, ... so ist es möglich. Vielleicht aber ist die Bemerkung bloß eine Dichter-Floskel, wodurch der Enthusiasmus seiner Relation Leben zu erteilen gesucht hat. Auch muß man diese Wage für mahlerische Verdienste sehr behutsam gebrauchen. Zeuxis soll durch ein Gemählde die Vögel des Himmels betrogen haben, und man bewundert den Mann deswegen in der Schule. Ich muß gestehen, daß meine hohe Idee von dem Kennerblick der Vögel ... gar sehr gesunken ist, seit dem ich auf meiner eigenen Stube und mit meinen eigenen Augen gesehen habe, daß ein sonst schlaues Rothkehlchen, ein Paarmal des Tages ein Schlüsselloch für eine Fliege hielt und mit großer Gewalt darauf zustieß." (Göttinger Taschenkalender, zit. nach: Oettermann, 1980, S. 82.)

8 Wenn erlernte Wahrnehmungsmuster allerdings zu sehr irritiert werden, dann paßt die Raumerfahrung, die das Gemalte dem Betrachter suggeriert, nicht zusammen mit der tatsächlichen Distanz, die er von der Oberfläche der Leinwand hat. Das könnte eine Ursache der beschriebenen Schwindelerscheinungen sein.
Allerdings mag es hier eine Differenz geben zwischen heutigen und zeitgenössischen Besuchern, die sich rezeptionshistorisch erklären läßt. Die Wirkung auf die historischen Betrachter der Panoramen könnte deshalb intensiver gewesen sein, weil sie weit weniger als heutige mit derlei Inszenierungen und mit Bildern überhaupt vertraut waren. Für das Massenpublikum des 18. Jahrhunderts war die alltägliche Umwelt geprägt von Bilderlosigkeit. Für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung war die Betrachtung von Gemälden nur in den Kirchen möglich oder vor den roh gemalten Schildern der Moritatensänger. "Kunstbesitz und Kunstkennerschaft blieben lange exklusiv. Die Eintrittspreise der ersten Museen waren prohibitiv hoch ... In diese Bilderarmut platzten die ersten Riesenrundgemälde, die gegen einen verhältnismäßig geringen Obolus für jedermann zugänglich waren, wie eine Bombe... Auf die Zeitgenossen machten die Panoramen einen alle Sinne überwältigenden, geradezu umwerfenden Eindruck, der bis zu körperlicher Übelkeit gehen konnte." (Oettermann, 1995, S. 73.)

9 Milman, 1984, S. 7.


Home

Inhalt

Weiter