Der panoramatische Überblick
Im Panorama bietet sich die Landschaft zum Überblick
dar. Das Panorama ist eine historische Erfindung. Den panoramatischen
Blick dagegen gab es, meint Brock, "seit Menschen ... sich
zum ersten Mal aufrichteten, um stehend das Terrain zu rekognizieren".1 Der Überblick ließ sich steigern durch
die Wahl erhöhter Standpunkte. Alle rituellen Exponierungen
wurden zu weithin sichtbaren Orten, "an denen sich der Überblick
als Übersicht auswies: sei es bei der Anlage einer Akropolis,
sei es bei der Wahl eines Burgbergs ... oder eines Feldherrnhügels."2 Der durch seine Höhe ausgezeichnete Ort
war den Mächtigen vorbehalten, die ihre Erhöhung weithin
sichtbar machten. Um die Einheit von Übersicht und Erhöhung
geht es noch heute, auch wenn der funktionsgeleitete Überblick
zur schönen Aussicht geworden ist - Aussichtspunkte sind
in Autoatlanten meist besonders markiert.
Aussichtspunkte erfahren oft eine säkularisierende Umdeutung.
Kirchtürme, die als Aussichtsplattformen genutzt werden,
"sind nicht länger Wegweiser des gläubigen Blicks,
man blickt nicht mehr an ihnen hinauf, sondern, selbst gottähnlich
geworden, von ihnen herab. Sie dienten nicht mehr der Ehre Gottes,
sondern allein zur Befriedigung menschlicher Seh-Sucht."3 Gebäude wie der Eiffelturm sind nach Oettermann
einzig zum Zwecke der Befriedigung der 'Seh-Sucht' errichtet.
Roland Barthes beschreibt am Beispiel des Eiffelturms den intellektuellen
Charakter des Panoramablicks. Im Betrachten (natürlicher)
Panoramen betreibe man, meint Barthes, Strukturalismus, ohne
sich dessen bewußt sein zu müssen. Die Vogelperspektive
biete die Welt zum Lesen dar. Das markiere "das Entstehen
einer neuen, intellektualistischen Art des Wahrnehmens."4 Die Vogelperspektive ermöglicht, über
die unmittelbare Wahrnehmung hinauszutreten und die Dinge in
ihrer Struktur zu sehen. Struktur bedeutet: einen Körper
aus verständlichen Formen zu sehen. In der vor ihm ausgebreiteten
Landschaft unterscheidet der Beobachter Punkte und verknüpft
sie, um sie innerhalb eines großen funktionellen Raumes
wahrzunehmen. Er trennt und ordnet. Die Landschaft bietet sich
ihm dar "wie ein virtuell präpariertes Objekt,
das der Intelligenz vorgelegt wird... Diese Tätigkeit des
Geistes ... hat einen Namen: das Entziffern."5
Das Wissen um die Topographie kämpft mit der Wahrnehmung.
In diesem Sinne "ist Verstehen wiederherstellen,
Gedächtnis und Empfindung so zusammenwirken lassen, daß
im Geist ein Simulacrum ... hergestellt wird. Darin liegt die
dialektische Natur der panoramaartigen Sicht: einerseits gleitet
der Blick über ein kontinuierliches Bild ..., andererseits
will diese Kontinuität entziffert werden".6
Entziffern der Landschaft mittels der Entschlüsselung von
chiffreartiger Darstellung: solche Lesart dient der Herstellung
eines Bildes, das in Begriffe übersetzt werden kann. Die
Übersetzung dient dazu, der Landschaft habhaft zu werden.
Die ursprünglich feindliche Wildnis, die zur beherrschten
Kulturlandschaft wurde, kann nur deshalb auch ästhetisch
wahrgenommen werden, weil sie nutzbar gemacht worden ist, und
aus dem geheimnis- und gefahrbehafteten Fremden eine - im buchstäblichen
Sinne - denkbare Heimstatt wurde.
Im Überblick wird die Beherrschbarkeit der Landschaft erfahrbar.
Die im militärischen Sinne reale, funktionale Beherrschbarkeit
ist zugleich eine gedankliche. Der panoramatische Blick könne
nur befriedigt werden, meint Brock, "wenn er aus der Wahrnehmung
der äußeren Welt in die innere Vorstellung und die
gedankliche Begriffsbildung überführt"7
wird. Aus dem Überblick wurde die Supervison, "aus
der Einheit von Übersicht und funktionaler Erhöhung
wurde die Totalitätserfahrung von Endlosigkeit und Unendlichkeit
... Das Entscheidende: ohne Supervision, also ohne Vorstellung
und modellhafte Instrumentierung von Welt als Totalität,
lassen sich Ansprüche auf Führung, Orientierung und
Erkenntnis nicht legitimieren."8