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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Der panoramatische Überblick

 

Im Panorama bietet sich die Landschaft zum Überblick dar. Das Panorama ist eine historische Erfindung. Den panoramatischen Blick dagegen gab es, meint Brock, "seit Menschen ... sich zum ersten Mal aufrichteten, um stehend das Terrain zu rekognizieren".1 Der Überblick ließ sich steigern durch die Wahl erhöhter Standpunkte. Alle rituellen Exponierungen wurden zu weithin sichtbaren Orten, "an denen sich der Überblick als Übersicht auswies: sei es bei der Anlage einer Akropolis, sei es bei der Wahl eines Burgbergs ... oder eines Feldherrnhügels."2 Der durch seine Höhe ausgezeichnete Ort war den Mächtigen vorbehalten, die ihre Erhöhung weithin sichtbar machten. Um die Einheit von Übersicht und Erhöhung geht es noch heute, auch wenn der funktionsgeleitete Überblick zur schönen Aussicht geworden ist - Aussichtspunkte sind in Autoatlanten meist besonders markiert.

Aussichtspunkte erfahren oft eine säkularisierende Umdeutung. Kirchtürme, die als Aussichtsplattformen genutzt werden, "sind nicht länger Wegweiser des gläubigen Blicks, man blickt nicht mehr an ihnen hinauf, sondern, selbst gottähnlich geworden, von ihnen herab. Sie dienten nicht mehr der Ehre Gottes, sondern allein zur Befriedigung menschlicher Seh-Sucht."3 Gebäude wie der Eiffelturm sind nach Oettermann einzig zum Zwecke der Befriedigung der 'Seh-Sucht' errichtet.

Roland Barthes beschreibt am Beispiel des Eiffelturms den intellektuellen Charakter des Panoramablicks. Im Betrachten (natürlicher) Panoramen betreibe man, meint Barthes, Strukturalismus, ohne sich dessen bewußt sein zu müssen. Die Vogelperspektive biete die Welt zum Lesen dar. Das markiere "das Entstehen einer neuen, intellektualistischen Art des Wahrnehmens."4 Die Vogelperspektive ermöglicht, über die unmittelbare Wahrnehmung hinauszutreten und die Dinge in ihrer Struktur zu sehen. Struktur bedeutet: einen Körper aus verständlichen Formen zu sehen. In der vor ihm ausgebreiteten Landschaft unterscheidet der Beobachter Punkte und verknüpft sie, um sie innerhalb eines großen funktionellen Raumes wahrzunehmen. Er trennt und ordnet. Die Landschaft bietet sich ihm dar "wie ein virtuell präpariertes Objekt, das der Intelligenz vorgelegt wird... Diese Tätigkeit des Geistes ... hat einen Namen: das Entziffern."5 Das Wissen um die Topographie kämpft mit der Wahrnehmung. In diesem Sinne "ist Verstehen wiederherstellen, Gedächtnis und Empfindung so zusammenwirken lassen, daß im Geist ein Simulacrum ... hergestellt wird. Darin liegt die dialektische Natur der panoramaartigen Sicht: einerseits gleitet der Blick über ein kontinuierliches Bild ..., andererseits will diese Kontinuität entziffert werden".6

Entziffern der Landschaft mittels der Entschlüsselung von chiffreartiger Darstellung: solche Lesart dient der Herstellung eines Bildes, das in Begriffe übersetzt werden kann. Die Übersetzung dient dazu, der Landschaft habhaft zu werden. Die ursprünglich feindliche Wildnis, die zur beherrschten Kulturlandschaft wurde, kann nur deshalb auch ästhetisch wahrgenommen werden, weil sie nutzbar gemacht worden ist, und aus dem geheimnis- und gefahrbehafteten Fremden eine - im buchstäblichen Sinne - denkbare Heimstatt wurde.

Im Überblick wird die Beherrschbarkeit der Landschaft erfahrbar. Die im militärischen Sinne reale, funktionale Beherrschbarkeit ist zugleich eine gedankliche. Der panoramatische Blick könne nur befriedigt werden, meint Brock, "wenn er aus der Wahrnehmung der äußeren Welt in die innere Vorstellung und die gedankliche Begriffsbildung überführt"7 wird. Aus dem Überblick wurde die Supervison, "aus der Einheit von Übersicht und funktionaler Erhöhung wurde die Totalitätserfahrung von Endlosigkeit und Unendlichkeit ... Das Entscheidende: ohne Supervision, also ohne Vorstellung und modellhafte Instrumentierung von Welt als Totalität, lassen sich Ansprüche auf Führung, Orientierung und Erkenntnis nicht legitimieren."8

 


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 1 Brock, 1995, S. 67.

2 Brock, 1995, S. 67.
Ein solcher ausgezeichneter Ort sollte auch der, der Sage nach unter Nebukadnezar II erbaute Turm zu Babel werden. Er sollte bis zum Himmel reichen, seine Ausführung wurde jedoch durch Gott durch die 'babylonische Sprachverwirrung' vereitelt: "Da fuhr der Herr hernieder, um die Stadt zu besehen und den Turm, den die Menschenkinder gebaut hatten. / Und der Herr sprach: Siehe, sie sind ein Volk und haben alle eine Sprache. Und dies ist erst der Anfang ihres Tuns; nunmehr wird ihnen nichts unmöglich sein, was immer sie sich vornehmen. / Wohlan, lasst uns hinabfahren und daselbst ihre Sprache verwirren, dass keiner mehr des anderen Sprache verstehe. / Also zerstreute sie der Herr von dort über die ganze Erde, und sie liessen ab, die Stadt zu bauen." (1. Mose 11, 6-8)

3 Oettermann, 1980, S. 11.

4 Barthes, 1970, S. 43.

5 Barthes, 1970, S. 43.

6 Barthes, 1970, S. 44.

7 Brock, 1995, S. 70f.

8 Brock, 1995, S. 68.


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