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Gabriele Schmid:  Illusionsräume
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Der Horizont als Grenze menschlicher Erkenntnis

 

Die Bestimmung des Umfangs und der Grenzen menschlicher Erkenntnis ist ein Hauptanliegen des kritischen Kant. Kant benutzt den Horizont als Metapher aus der Sphäre des sinnlichen Scheins, mit deren Hilfe er analoge Verhältnisse im Bereich des Denkens verdeutlichen will.1 In Bezug auf das Panorama sind Kants Überlegungen deshalb von Interesse, weil Kant sich beim Entwurf seines Modells auf die mathematisch-konstruktiven Elemente des Panoramas bezieht: auf den Horizont, den imaginären Augenpunkt der perspektivischen Konstruktion und auf die Spiegelung der Welt im Bild. Angewendet werden die der Geometrie entlehnten Begriffe auf die modellhafte Figur des Globusses.

Im geographischen Sinne versteht Kant den Horizont als Begrenzung eines Blickfelds, in welchem die Aufmerksamkeit allein der Landschaft gilt und nicht dem Himmel darüber. Ähnlich den Panoramabesuchern, die nicht mehr wie im barocken Deckengemälde nach oben in einen von göttlichen Wesen bewohnten Himmel blicken, sondern auf ein von Menschen bevölkertes Szenarium, gilt Kants Interesse der Erdoberfläche und dem, was sich unter ihr verbirgt.

Spätestens seit der Renaissance bezeichnet man in Analogie zur Erdkugel und zum Himmelsglobus die Gesamtheit der reinen Erkenntnisse als globus intellectualis. Kant will ein Modell des globus intellectualis entwerfen, das es erlaubt, die Grenzen menschlicher Erkenntnis zu bestimmen.

Den Horizont nutzt Kant als Metapher: "Der Umkreis, innerhalb dessen unsere Augen etwas sehen können, dient als ein Bild für den Umkreis, innerhalb dessen unser Denken etwas begreifen kann."2 In der Sphäre des sinnlichen Scheins beschreibt, "wenn wir uns irgendwo in einer Landschaft befinden, ... der Horizont den Umkreis alles dessen, was wir innerhalb seiner sehen können."3 Was wir sehen ist die Erdoberfläche. "Die Erdoberfläche enthält die Gesamtheit aller möglichen Horizonte unseres Auges."4 Kann die Grenze der Erdoberfläche bestimmt werden, dann können zugleich alle möglichen Horizonte unserer optischen Wahrnehmung festgelegt werden. Dem sinnlichen Schein nach ist die Oberfläche der Erde unendlich. "Die Gestalt des Globus ist der sinnlichen Wahrnehmung entzogen... Zur Erkenntnis der Kugelgestalt der Erde sind die Menschen dadurch gekommen, daß sie im Widerspruch zum sinnlichen Schein ein mathematisches Modell konstruiert haben".5 Erkenntnisquelle ist die Geometrie, und "geometrische Erkenntnisse gewinnen wir nicht aus unserer sinnlichen Erfahrung; wir gewinnen sie aus einer axiomatisch aufgebauten Wissenschaft, also aus nichtsinnlicher Erkenntnis."6 Alle wissenschaftliche Erfahrung beruht auf der Konstruktion von idealtypischen Modellen. "Empirisch können solche Modelle nicht gefunden werden, denn sie sind selbst die Voraussetzung jeder Empirie."7

Der Globus ist ein Modell für die Grenzen der Erdoberfläche. Der globus intellectualis kann als Modell für die Idee der unbedingten Totalität angesehen werden. Der Begriff der Totalität läßt die Ebene als Einheit denken, die alle möglichen Gegenstände der Erkenntnis in sich enthält. Indem die Ebene eine Totalität ist, ist sie begrenzt. Ihre Schranken können vom dem, der auf der Ebene steht, nicht bestimmt werden. Um die Grenzen bestimmen zu können, muß analog zur Krümmung der Erdoberfläche die Krümmung des globus intellectualis berechnet werden. Kant vergleicht die Vernunfterkenntnis der gekrümmten Sphäre.8 Die Gegenstände möglicher Erfahrung sind vergleichbar den Gegenständen auf der Erdoberfläche. Alle Gegenstände auf der Erdoberfläche befinden sich im gleichen Abstand zu einem uns verborgenen Zentrum. Um das Zentrum erkennen zu können, muß die Oberfläche der Sphäre der Erkenntnis in Richtung auf ihr verborgenes Zentrum transzendiert werden. Im Zentrum der Kugel sind keine Gegenstände der Erfahrung. Im Inneren der Kugel kommen subjektive Prinzipien9 zur Anwendung: Das sind die transzendentalen Ideen (Gott, Welt, Mensch). Die transzendentalen Ideen im Innern der Kugel sind nicht gegeben. Aus den Ideen im Zentrum der Kugel konstituiert sich das denkende Subjekt selbst. Kants kopernikanische Wende besteht darin, daß er die transzendentalen Ideen aus dem Bereich der möglichen Objekte der Erkenntnis in den Bereich der Subjektivität verlagert.

Transzendentale Ideen können keine Begriffe von bestimmten Gegenständen geben. Sie dienen einem regulativen Gebrauch, indem sie den Verstand auf ein Ziel ausrichten. Den regulativen Gebrauch der transzendentalen Ideen erklärt Kant mit dem Projektionsverfahren der Zentralperspektive: Der Augenpunkt ist imaginär. Es wäre eine Täuschung zu meinen, "der focus imaginarius eines perspektivischen Bildes wäre ein wirklicher Ort in der wirklichen Landschaft. Insofern beruht alle Perspektive auf einer Täuschung."10 Der imaginäre Augenpunkt aber schafft "erst die Möglichkeit zur Darstellung eines perspektivisch geordneten Bildes beziehungsweise im übertragenen Sinn zum Entwurf einer konsistenten Wissenschaftstheorie."11

Wie der Augenpunkt sind Ideen imaginär. Der transzendentale Schein beruht darauf, daß wir Ideen uns vorstellen als etwas Gegebenes, "während in Wahrheit die Vernunft jener Ursprung ist, den wir, von der Perspektive geleitet, wie eine Spiegelung vor uns zu sehen meinen."12 Nach der Metapher der Spiegelung liegt vor Augen das Feld der Erfahrung. Im Rücken liegen der Inhalt der Kugel und ihr Zentrum: die Einheit der Vernunft. Das Zentrum kann nur im Spiegel betrachtet werden. Was wir im Spiegel vor uns liegen zu sehen vermeinen, liegt in Wahrheit hinter uns. "Deshalb bekommen wir die transzendentalen Ideen nur in der Gestalt des transzendentalen Scheins vor Augen. Ohne die transzendentalen Ideen und das in ihnen vorgezeichnete Gesetz der Perspektive würden wir aber überhaupt zu keiner gesetzmäßigen Ordnung unserer Erkenntnisse gelangen."13 Deshalb ist Illusion notwendig, man kann sie nicht verhindern. "Verhindern kann man, daß man auf sie hereinfällt und das Spiegelbild mit der Wirklichkeit verwechselt. Wir sollen die Illusion zwar haben, aber zugleich als Illusion durchschauen. Wir sollen die Wahrheit des Bildes erfassen, indem wir das Bild nur als Bild betrachten."14

Alle wissenschaftlichen Theorien können als Projektionen im durch das Spiegelgleichnis erläuterten Sinne betrachtet werden. Die Gesetze dieser Projektion sind im System der transzendentalen Ideen vorgezeichnet. "Alles, was die stets auf Erfahrung bezogene Verstandeserkenntnis einsehen und objektiv bestimmen kann, liegt innerhalb eines Entwurfes, den die Vernunft vorgängig vollzogen haben muß. Das, was in dem Entwurf entworfen wird, ist also der Horizont der Verstandeserkenntnis."15 Die Vernunft entwirft die Gegend, in der sie sich befindet. Sie entwirft durch die Grenzbestimmung menschlicher Erkenntnis den ihr durch ihre eigene Natur vorgezeichneten Horizont und entdeckt, daß ihre eigene Gegend das Zentrum des globus intellectualis ist.

Vor dem Hintergrund von Kants erkenntnistheoretischen Überlegungen erscheint, überträgt man die metaphorische Bedeutung des Horizonts auf die Erscheinung zurück, das Panorama in anderem Licht. Im Zentrum des Panoramas von Scheveningen befindet sich das Camera-obscura-analoge Auge Mesdags. Von diesem imaginären Punkt aus wird der Horizont als das bestimmende Motiv des Panoramas auf die Leinwand projiziert. Das mathematisch fundierte perspektivische Verfahren und die Linie des Horizonts können gleichsam als 'regulative Ideen' betrachtet werden, denen die empirischen Exempla ein- und untergeordnet werden. So wird die Geometrie zum Paradigma des anschaulich Gegebenen. In der geometrischen Figur des Horizonts scheint die Inbesitznahme des Seienden durch die Naturwissenschaft auf. Doch muß man, folgt man Pichts Kantinterpretation, das Panorama und seine Vermittlungsstrategie - den Camera-obscura-artigen Blick - modellhaft auffassen. Die Idee von der 'illusion complète' will intentional das Erkennen der Modellhaftigkeit verhindern. Betrachtern ist solch reflektierende Erkenntnis als Erfahrung ästhetischer Differenz prinzipiell möglich.

 


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 1 Im Folgenden beziehe ich mich auf die Kant-Auslegung Georg Pichts in: Der Begriff der Natur und seine Geschichte (Picht, 1989), aus der ich diese Überlegungen in Bezug auf das Panorama extrahiert habe.

2 Picht, 1989, S. 224.

3 Picht, 1989, S. 219.

4 Picht, 1989, S. 225.

5 Picht, 1989, S. 225.

6 Picht, 1989, S. 225.

7 Picht, 1989, S. 227.

8 "Unsere Vernunft ist nicht etwa eine unbestimmbar weit ausgebreitete Ebene, deren Schranken man nur so überhaupt erkennt, sondern muß vielmehr mit einer Sphäre verglichen werden, deren Halbmesser sich aus der Krümmung des Bogens auf ihrer Oberfläche ... finden, daraus aber auch der Inhalt und die Begrenzung derselben mit Sicherheit angeben läßt." (Kant (B 790; 3, 497), zit. nach: Picht, 1989, S. 238.)

9 'Subjektiv' versteht Kant im Sinne des griechischen 'subiectum' (= das erste Zugrundeliegende) als 'allgemeingültig'.

10 Picht, 1989, S. 250f.

11 Picht, 1989, S. 251.

12 Picht, 1989, S. 251.

13 Picht, 1989, S. 252f.

14 Picht, 1989, S. 253.

15 Picht, 1989, S. 256.


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