Der Horizont als Grenze menschlicher Erkenntnis
Die Bestimmung des Umfangs und der Grenzen menschlicher Erkenntnis
ist ein Hauptanliegen des kritischen Kant. Kant benutzt den Horizont
als Metapher aus der Sphäre des sinnlichen Scheins, mit
deren Hilfe er analoge Verhältnisse im Bereich des Denkens
verdeutlichen will.1 In Bezug auf das Panorama
sind Kants Überlegungen deshalb von Interesse, weil Kant
sich beim Entwurf seines Modells auf die mathematisch-konstruktiven
Elemente des Panoramas bezieht: auf den Horizont, den imaginären
Augenpunkt der perspektivischen Konstruktion und auf die Spiegelung
der Welt im Bild. Angewendet werden die der Geometrie entlehnten
Begriffe auf die modellhafte Figur des Globusses.
Im geographischen Sinne versteht Kant den Horizont als Begrenzung
eines Blickfelds, in welchem die Aufmerksamkeit allein der Landschaft
gilt und nicht dem Himmel darüber. Ähnlich den Panoramabesuchern,
die nicht mehr wie im barocken Deckengemälde nach oben in
einen von göttlichen Wesen bewohnten Himmel blicken, sondern
auf ein von Menschen bevölkertes Szenarium, gilt Kants Interesse
der Erdoberfläche und dem, was sich unter ihr verbirgt.
Spätestens seit der Renaissance bezeichnet man in Analogie
zur Erdkugel und zum Himmelsglobus die Gesamtheit der reinen
Erkenntnisse als globus intellectualis. Kant will ein
Modell des globus intellectualis entwerfen, das es erlaubt,
die Grenzen menschlicher Erkenntnis zu bestimmen.
Den Horizont nutzt Kant als Metapher: "Der Umkreis, innerhalb
dessen unsere Augen etwas sehen können, dient als ein Bild
für den Umkreis, innerhalb dessen unser Denken etwas begreifen
kann."2 In der Sphäre des sinnlichen
Scheins beschreibt, "wenn wir uns irgendwo in einer Landschaft
befinden, ... der Horizont den Umkreis alles dessen, was wir
innerhalb seiner sehen können."3 Was
wir sehen ist die Erdoberfläche. "Die Erdoberfläche
enthält die Gesamtheit aller möglichen Horizonte unseres
Auges."4 Kann die Grenze der Erdoberfläche
bestimmt werden, dann können zugleich alle möglichen
Horizonte unserer optischen Wahrnehmung festgelegt werden. Dem
sinnlichen Schein nach ist die Oberfläche der Erde unendlich.
"Die Gestalt des Globus ist der sinnlichen Wahrnehmung entzogen...
Zur Erkenntnis der Kugelgestalt der Erde sind die Menschen dadurch
gekommen, daß sie im Widerspruch zum sinnlichen Schein
ein mathematisches Modell konstruiert haben".5
Erkenntnisquelle ist die Geometrie, und "geometrische Erkenntnisse
gewinnen wir nicht aus unserer sinnlichen Erfahrung; wir gewinnen
sie aus einer axiomatisch aufgebauten Wissenschaft, also aus
nichtsinnlicher Erkenntnis."6 Alle wissenschaftliche
Erfahrung beruht auf der Konstruktion von idealtypischen Modellen.
"Empirisch können solche Modelle nicht gefunden werden,
denn sie sind selbst die Voraussetzung jeder Empirie."7
Der Globus ist ein Modell für die Grenzen der Erdoberfläche.
Der globus intellectualis kann als Modell für die
Idee der unbedingten Totalität angesehen werden. Der Begriff
der Totalität läßt die Ebene als Einheit denken,
die alle möglichen Gegenstände der Erkenntnis in sich
enthält. Indem die Ebene eine Totalität ist, ist sie
begrenzt. Ihre Schranken können vom dem, der auf der Ebene
steht, nicht bestimmt werden. Um die Grenzen bestimmen zu können,
muß analog zur Krümmung der Erdoberfläche die
Krümmung des globus intellectualis berechnet werden.
Kant vergleicht die Vernunfterkenntnis der gekrümmten Sphäre.8 Die Gegenstände möglicher Erfahrung
sind vergleichbar den Gegenständen auf der Erdoberfläche.
Alle Gegenstände auf der Erdoberfläche befinden sich
im gleichen Abstand zu einem uns verborgenen Zentrum. Um das
Zentrum erkennen zu können, muß die Oberfläche
der Sphäre der Erkenntnis in Richtung auf ihr verborgenes
Zentrum transzendiert werden. Im Zentrum der Kugel sind keine
Gegenstände der Erfahrung. Im Inneren der Kugel kommen subjektive
Prinzipien9 zur Anwendung: Das sind die transzendentalen
Ideen (Gott, Welt, Mensch). Die transzendentalen Ideen im Innern
der Kugel sind nicht gegeben. Aus den Ideen im Zentrum der Kugel
konstituiert sich das denkende Subjekt selbst. Kants kopernikanische
Wende besteht darin, daß er die transzendentalen Ideen
aus dem Bereich der möglichen Objekte der Erkenntnis in
den Bereich der Subjektivität verlagert.
Transzendentale Ideen können keine Begriffe von bestimmten
Gegenständen geben. Sie dienen einem regulativen Gebrauch,
indem sie den Verstand auf ein Ziel ausrichten. Den regulativen
Gebrauch der transzendentalen Ideen erklärt Kant mit dem
Projektionsverfahren der Zentralperspektive: Der Augenpunkt ist
imaginär. Es wäre eine Täuschung zu meinen, "der
focus imaginarius eines perspektivischen Bildes wäre
ein wirklicher Ort in der wirklichen Landschaft. Insofern beruht
alle Perspektive auf einer Täuschung."10
Der imaginäre Augenpunkt aber schafft "erst die Möglichkeit
zur Darstellung eines perspektivisch geordneten Bildes beziehungsweise
im übertragenen Sinn zum Entwurf einer konsistenten Wissenschaftstheorie."11
Wie der Augenpunkt sind Ideen imaginär. Der transzendentale
Schein beruht darauf, daß wir Ideen uns vorstellen als
etwas Gegebenes, "während in Wahrheit die Vernunft
jener Ursprung ist, den wir, von der Perspektive geleitet, wie
eine Spiegelung vor uns zu sehen meinen."12
Nach der Metapher der Spiegelung liegt vor Augen das Feld der
Erfahrung. Im Rücken liegen der Inhalt der Kugel und ihr
Zentrum: die Einheit der Vernunft. Das Zentrum kann nur im Spiegel
betrachtet werden. Was wir im Spiegel vor uns liegen zu sehen
vermeinen, liegt in Wahrheit hinter uns. "Deshalb bekommen
wir die transzendentalen Ideen nur in der Gestalt des transzendentalen
Scheins vor Augen. Ohne die transzendentalen Ideen und das in
ihnen vorgezeichnete Gesetz der Perspektive würden wir aber
überhaupt zu keiner gesetzmäßigen Ordnung unserer
Erkenntnisse gelangen."13 Deshalb ist
Illusion notwendig, man kann sie nicht verhindern. "Verhindern
kann man, daß man auf sie hereinfällt und das Spiegelbild
mit der Wirklichkeit verwechselt. Wir sollen die Illusion zwar
haben, aber zugleich als Illusion durchschauen. Wir sollen die
Wahrheit des Bildes erfassen, indem wir das Bild nur als Bild
betrachten."14
Alle wissenschaftlichen Theorien können als Projektionen
im durch das Spiegelgleichnis erläuterten Sinne betrachtet
werden. Die Gesetze dieser Projektion sind im System der transzendentalen
Ideen vorgezeichnet. "Alles, was die stets auf Erfahrung
bezogene Verstandeserkenntnis einsehen und objektiv bestimmen
kann, liegt innerhalb eines Entwurfes, den die Vernunft vorgängig
vollzogen haben muß. Das, was in dem Entwurf entworfen
wird, ist also der Horizont der Verstandeserkenntnis."15 Die Vernunft entwirft die Gegend, in der sie
sich befindet. Sie entwirft durch die Grenzbestimmung menschlicher
Erkenntnis den ihr durch ihre eigene Natur vorgezeichneten Horizont
und entdeckt, daß ihre eigene Gegend das Zentrum des globus
intellectualis ist.
Vor dem Hintergrund von Kants erkenntnistheoretischen Überlegungen
erscheint, überträgt man die metaphorische Bedeutung
des Horizonts auf die Erscheinung zurück, das Panorama in
anderem Licht. Im Zentrum des Panoramas von Scheveningen befindet
sich das Camera-obscura-analoge Auge Mesdags. Von diesem imaginären
Punkt aus wird der Horizont als das bestimmende Motiv des Panoramas
auf die Leinwand projiziert. Das mathematisch fundierte perspektivische
Verfahren und die Linie des Horizonts können gleichsam als
'regulative Ideen' betrachtet werden, denen die empirischen Exempla
ein- und untergeordnet werden. So wird die Geometrie zum Paradigma
des anschaulich Gegebenen. In der geometrischen Figur des Horizonts
scheint die Inbesitznahme des Seienden durch die Naturwissenschaft
auf. Doch muß man, folgt man Pichts Kantinterpretation,
das Panorama und seine Vermittlungsstrategie - den Camera-obscura-artigen
Blick - modellhaft auffassen. Die Idee von der 'illusion complète'
will intentional das Erkennen der Modellhaftigkeit verhindern.
Betrachtern ist solch reflektierende Erkenntnis als Erfahrung
ästhetischer Differenz prinzipiell möglich.