Perspektive und Spiegel
So wie das 'finestra aperta' eine Öffnung der realen
Orte ist, sind die fiktiven Räume ihrerseits offen hin zum
Betrachterraum. Dessen räumliche Struktur sollen sie spiegeln.
Alberti hielt die Malerei für den Versuch, mit Mitteln der
Kunst die Wasseroberfläche von Narziß' Quell zu umarmen.
Die Perspektive, meint Boehm, radikalisiere eine Möglichkeit
des Erlebens von Welt, die der Mensch kennt, seit er Spiegelungen
kennt. Der Spiegel zeigt einen Gegenstand nur so lange, als er
sich spiegelt. "Das Spiegelbild hat dergestalt gar kein
eigenes Sein, da es nur das Gespiegelte vorweist, es hebt sich
auf, wenn dieses verschwindet."1 Das zentralperspektivische
Bild verwandelt das flüchtige Dasein des Spiegelbildes in
ein dauerndes. Brunelleschi, der wohl als erster eine mathematisch
fundierte und experimentell überprüfte perspektivische
Methode vortrug, bediente sich zu deren Herstellung und Präsentation
eines Spiegels.2 Ausgehend von Leonardos Spiegelvergleich
charakterisiert Johann H. Lambert Bilder dergestalt, daß
man nicht glaube, ein Bild, sondern den Gegenstand selbst in
seiner wahren Entfernung zu sehen. "Leonardo da Vinci hat
längst schon die Gemälde mit Spiegeln verglichen...
(sic) - das letzte Ziel, das sich ein Maler vornehmen kann, darein
gesetzt, daß sein Gemälde die Entfernung des Gegenstandes
ebenso in wahrer Größe vorzeige, wie es der Spiegel
tut. Es ist ein Fehler des Spiegels, wenn man das geringste vom
Glase sieht, aus dem er gemacht ist. Ebenso soll man im Gemälde
nichts von der Tafel, ... den Farbstrichen, sondern schlechthin
nur den Gegenstand in derjenigen Größe und Entfernung
sehen, die bei der Zeichnung zugrundegelegt worden."3 Wie das Spiegelglas im alltäglichen Gebrauch
nur Durchgang des Betrachters ist zu sich selbst, so wird die
Materialität des 'finestra aperta' negiert, "da derjenige,
der durch das offene Fenster blickt, bei den Dingen sein will,
die sich ihm draußen darbieten."4
Der Vergleich des Bildes mit dem Spiegelbild zeigt die Absicht,
die Bildsprache zu einer Art Natursprache werden zu lassen, "welches
Ziel mit della Portas camera obscura im Dienste der Maler anvisiert
und mit der Erfindung der photographischen Platte schließlich
erreicht wurde."5 So konnte die fotografische
Platte als ein Medium betrachtet werden, durch das sich die Natur
selbst abbildet. Ja, sie galt als "die wahre Netzhaut des
Forschers", die man die des Künstlers nennen könnte,
meinte Bois-Reymond, "wenn sie nicht unglücklicherweise
so gut wie farbenblind wäre."6