Perspektive und Mathematik
In der Geschichte perspektivischer Darstellungsweisen vollzog
sich im 15. Jahrhundert der Sprung vom Gebrauch handwerklicher
Regeln und Erfahrungen zur Anwendung mathematisch fundierter
Konstruktionssysteme. Aus mehreren, aus der Anschauung entwickelten
Vorformen entstand die costruzione legittima, die echte
zentralperspektivische Konstruktion. Während die perspektiva
naturalis versuchte, die Gesetze des natürlichen Sehens
mathematisch zu formulieren, versuchte die perspektiva artificialis
umgekehrt, eine praktisch verwendbare Konstruktion des künstlerischen
Flächenbildes zu entwickeln. Damit ändert sich die
Bedeutung der perspektivischen Konstruktion grundlegend. Die
Perspektive geht "als perspectiva artificialis in
die Wesensbestimmungen der neuen Kunst und als 'Perspektivität'
in das Zentrum des philosophischen Denkens ein, wo sie die Art
und Weise, wie sich der Mensch in der Welt bestimmt, neu formulieren
hilft."1 Die perspektivische Darstellung
vermittelt nun nicht mehr eine abstrahierte Form menschlicher
Wahrnehmung, sondern letztlich ein mathematisch-naturwissenschaftlich
fundiertes Weltbild.
Geometrisch optisch ist der entscheidende Schritt zur Zentralperspektive
der, daß das Bild als ebener Durchschnitt der Sehpyramide
beschrieben wird, wie Alberti es formuliert hat: "Die Malerei
wird also nichts anderes sein als die auf einer Fläche ...
zustande gebrachte künstlerische Darstellung eines Querschnittes
der Sehpyramide gemäß einer bestimmten Entfernung,
einem bestimmten Augenpunkt und einer bestimmten Beleuchtung."2 Der Künstler nimmt einen Augenpunkt an,
der "dem blickenden Auge gleichgesetzt wird. Von ihm aus
projiziert er Geraden ... zur Oberfläche der darzustellenden
Gegenstände. Die Schnittpunkte dieses Sehstrahlenkegels
mit einer ihn senkrecht durchschneidenden Ebene stellt die Bildebene
dar, die Fläche, in der die Gegenstände dargestellt
erscheinen."3 Der Augenpunkt
regelt die Orthogonalen und die Horizontalen. In ihm laufen alle
Fluchtlinien aller Gegenstände zusammen, im Unterschied
zum Fluchtpunkt, in dem lediglich einige Tiefenlinien zusammenlaufen.
Ein Bild kann mehrere Fluchtpunkte, aber nur einen Augenpunkt
haben. So ist es auch beim Panorama: Dessen einziger Augenpunkt
liegt im Mittelpunkt der Rotunde. Die Fluchtpunkte sind unendlich
vervielfacht zum Horizont.
Der Augenpunkt ist virtuell. "In seiner Rolle als 'Angelpunkt'
des Bildes ist der Augenpunkt nicht vergleichbar mit anderen
phänomenal gegebenen Punkten der wahrgenommenen Gegenstände,
er gehört überhaupt nicht zum realen Bestand des Bildes."
Er wird "als Projektionszentrum aufgefaßt, das zwar
den realen Bildraum entwirft, selbst aber virtuell bleibt...
Die Gegenstände des Bildes werden ... in einen vorentworfenen
Planraum eingestellt... Diesem Raum gegenüber bleibt der
Augenpunkt außerräumlich imaginär, aber raumschaffend."4 Der Augenpunkt entwirft eine Welt. Damit erwirbt
die Bildfläche einen bislang unbekannten Seinsrang. In der
vorneuzeitlichen Malerei wurde die Bildfläche als materiell
und undurchsichtig aufgefaßt. In der zentralperspektivischen
Darstellung wird die Bildfläche immateriell. "Der ontologische
Sinn des ebenen geometrischen Durchschnitts durch die Sehpyramide
ist das Ausblicknehmen durch die als 'offenes Fenster' ('finestra
aperta' - L.B. Alberti) verstandene Bildfläche. Als Ebene
ist sie immateriell, ja imaginär, weil ihre Rolle darin
aufgeht, die Gegenstände im Raum zu zeigen. Das Bild muß
im alten Sinne untergehen, damit es im neuzeitlichen Sinne, der
wesentlich ikonoklastisch ist, 'Bild' werden kann."5
Die geometrisch-mathematische Basis der perspektivischen Konstruktion
verlieh der Darstellung Gewißheit und der Anschauung Erkenntnisrang.
Umgekehrt geriet die Unmittelbarkeit der sinnlichen Empfindung
in der Renaissance unter den Verdacht der Verkennung, "sie
schien mit dem Makel mangelnder Natürlichkeit der Wahrnehmungsleistung
und ihrer ästhetischen Verarbeitung behaftet - ungenügender
An-Gemessenheit an die geordnete Natur."6
Der Natur, nahm man an, liege eine mathematische Ordnung zugrunde.
"In der zentralperspektivischen Konstruktion wird erstmals
die ... Überschreitung der anschaulich gegebenen Dinge auf
ihren mathematischen Horizont hin sichtbar. Sie werden zu Gegenständen
eines homogenen und isotropen Raumes... In der Perspektivkonstruktion
ist also eine Station auf dem Wege zur Heraufkunft der neuzeitlichen
Naturwissenschaft ... gegeben."7
Die mathematische Fundierung hat Folgen für die Raumgestalt.
Der Raum wird nicht durch die erscheinenden Dinge ausgebildet,
vielmehr ist er als abstrakte Konstruktion vorgegeben. "Der
Raum des Bildes wird vorgängig entworfen, in ihn wird die
Ordnung der Dinge erst eingefügt... Das Bild wird somit
zu einem Koordinatensystem, der Raum wird Planraum, ein Gefüge
geometrisch-mathematischer Abhängigkeiten."8
Da die komplexe Erscheinungsweise der Dinge mathematisch nicht
faßbar ist, muß der mathematischen Perspektive im
Falle der Malerei eine Luft- und Farbperspektive an die Seite
gestellt werden, wie es Leonardo zuerst problematisiert und getan
hat. Luft- und Farbperspektive sind der mathematisch-perspektivischen
Konstruktion untergeordnet. Sie treten als Schmuck zum Gegenstandsein
hinzu. "Die Prävalenz des disegno verdeutlicht ...
die Art und Weise, wie die Seinsgarantie der Bildwelt im perspektivischen
Entwurf zuerst gegeben wird und sich darauf 'schichtenmäßig'
das Kunstwerk aufbaut."9 Mesdags Verwendung
des Glaszylinders ist dafür ein Beispiel. Mesdag hat zuerst
eine Umrißzeichnung angefertigt, und in diese die gewünschte
atmosphärische Stimmung malerisch eingefügt.
Die mathematisch begründete Perspektive steht im Kontext
einer als primär gedachten Natur-Ordnung. Die vom Künstler
im Geiste erzeugte 'idea', die durch die Zeichnung offenbar wird,
stammt nicht aus ihm selbst, sondern sie ist der Natur entnommen.
Sie wird vom Subjekt erkannt, ist aber in den Objekten bereits
vorgebildet, so daß die vom Künstler aus der Anschauung
gewonnene Idee zugleich die Absichten der gesetzmäßig
schaffenden Natur offenbart. Der Künstler wird zum Demiurgen.
Er schafft die Welt des Bildes, die auf ästhetische Weise
ein Ganzes sein muß. Das Kunstwerk wird ästhetisch
autonom in dem Sinne, daß mit ihm eine in sich geschlossene
(virtuelle) Welt erzeugt ist, es ist nicht länger Teil der
materiell bestehenden.
Im Ästhetisch-werden der Kunst zeigt sich eine neue Ontologie,
bei der die Kunst ein unmittelbares Verhältnis zur Wahrheit
erwirbt. Mit der mathematisch-geometrisch begründeten Perspektive
wurde nicht nur die Kunst zur Wissenschaft erhoben, sondern der
subjektive Seheindruck so weit rationalisiert, daß er die
Grundlage für den Aufbau einer fest gegründeten, und
doch unendlichen Erfahrungswelt bilden konnte. "Es war eine
Überführung des psychophysiologischen Raumes in den
mathematischen erreicht, mit anderen Worten: eine Objektivierung
des Subjektiven."10 Die Objektivierbarkeit
des Subjektiven charakterisiert die Vermittlungsstrategie der
neuzeitlichen Perspektivkonstruktion.