Zurück
Gabriele Schmid:  Illusionsräume
Home

 

Perspektive und Mathematik

 

In der Geschichte perspektivischer Darstellungsweisen vollzog sich im 15. Jahrhundert der Sprung vom Gebrauch handwerklicher Regeln und Erfahrungen zur Anwendung mathematisch fundierter Konstruktionssysteme. Aus mehreren, aus der Anschauung entwickelten Vorformen entstand die costruzione legittima, die echte zentralperspektivische Konstruktion. Während die perspektiva naturalis versuchte, die Gesetze des natürlichen Sehens mathematisch zu formulieren, versuchte die perspektiva artificialis umgekehrt, eine praktisch verwendbare Konstruktion des künstlerischen Flächenbildes zu entwickeln. Damit ändert sich die Bedeutung der perspektivischen Konstruktion grundlegend. Die Perspektive geht "als perspectiva artificialis in die Wesensbestimmungen der neuen Kunst und als 'Perspektivität' in das Zentrum des philosophischen Denkens ein, wo sie die Art und Weise, wie sich der Mensch in der Welt bestimmt, neu formulieren hilft."1 Die perspektivische Darstellung vermittelt nun nicht mehr eine abstrahierte Form menschlicher Wahrnehmung, sondern letztlich ein mathematisch-naturwissenschaftlich fundiertes Weltbild.

Geometrisch optisch ist der entscheidende Schritt zur Zentralperspektive der, daß das Bild als ebener Durchschnitt der Sehpyramide beschrieben wird, wie Alberti es formuliert hat: "Die Malerei wird also nichts anderes sein als die auf einer Fläche ... zustande gebrachte künstlerische Darstellung eines Querschnittes der Sehpyramide gemäß einer bestimmten Entfernung, einem bestimmten Augenpunkt und einer bestimmten Beleuchtung."2 Der Künstler nimmt einen Augenpunkt an, der "dem blickenden Auge gleichgesetzt wird. Von ihm aus projiziert er Geraden ... zur Oberfläche der darzustellenden Gegenstände. Die Schnittpunkte dieses Sehstrahlenkegels mit einer ihn senkrecht durchschneidenden Ebene stellt die Bildebene dar, die Fläche, in der die Gegenstände dargestellt erscheinen."3 Der Augenpunkt regelt die Orthogonalen und die Horizontalen. In ihm laufen alle Fluchtlinien aller Gegenstände zusammen, im Unterschied zum Fluchtpunkt, in dem lediglich einige Tiefenlinien zusammenlaufen. Ein Bild kann mehrere Fluchtpunkte, aber nur einen Augenpunkt haben. So ist es auch beim Panorama: Dessen einziger Augenpunkt liegt im Mittelpunkt der Rotunde. Die Fluchtpunkte sind unendlich vervielfacht zum Horizont.

Der Augenpunkt ist virtuell. "In seiner Rolle als 'Angelpunkt' des Bildes ist der Augenpunkt nicht vergleichbar mit anderen phänomenal gegebenen Punkten der wahrgenommenen Gegenstände, er gehört überhaupt nicht zum realen Bestand des Bildes." Er wird "als Projektionszentrum aufgefaßt, das zwar den realen Bildraum entwirft, selbst aber virtuell bleibt... Die Gegenstände des Bildes werden ... in einen vorentworfenen Planraum eingestellt... Diesem Raum gegenüber bleibt der Augenpunkt außerräumlich imaginär, aber raumschaffend."4 Der Augenpunkt entwirft eine Welt. Damit erwirbt die Bildfläche einen bislang unbekannten Seinsrang. In der vorneuzeitlichen Malerei wurde die Bildfläche als materiell und undurchsichtig aufgefaßt. In der zentralperspektivischen Darstellung wird die Bildfläche immateriell. "Der ontologische Sinn des ebenen geometrischen Durchschnitts durch die Sehpyramide ist das Ausblicknehmen durch die als 'offenes Fenster' ('finestra aperta' - L.B. Alberti) verstandene Bildfläche. Als Ebene ist sie immateriell, ja imaginär, weil ihre Rolle darin aufgeht, die Gegenstände im Raum zu zeigen. Das Bild muß im alten Sinne untergehen, damit es im neuzeitlichen Sinne, der wesentlich ikonoklastisch ist, 'Bild' werden kann."5

Die geometrisch-mathematische Basis der perspektivischen Konstruktion verlieh der Darstellung Gewißheit und der Anschauung Erkenntnisrang. Umgekehrt geriet die Unmittelbarkeit der sinnlichen Empfindung in der Renaissance unter den Verdacht der Verkennung, "sie schien mit dem Makel mangelnder Natürlichkeit der Wahrnehmungsleistung und ihrer ästhetischen Verarbeitung behaftet - ungenügender An-Gemessenheit an die geordnete Natur."6 Der Natur, nahm man an, liege eine mathematische Ordnung zugrunde. "In der zentralperspektivischen Konstruktion wird erstmals die ... Überschreitung der anschaulich gegebenen Dinge auf ihren mathematischen Horizont hin sichtbar. Sie werden zu Gegenständen eines homogenen und isotropen Raumes... In der Perspektivkonstruktion ist also eine Station auf dem Wege zur Heraufkunft der neuzeitlichen Naturwissenschaft ... gegeben."7
Die mathematische Fundierung hat Folgen für die Raumgestalt. Der Raum wird nicht durch die erscheinenden Dinge ausgebildet, vielmehr ist er als abstrakte Konstruktion vorgegeben. "Der Raum des Bildes wird vorgängig entworfen, in ihn wird die Ordnung der Dinge erst eingefügt... Das Bild wird somit zu einem Koordinatensystem, der Raum wird Planraum, ein Gefüge geometrisch-mathematischer Abhängigkeiten."8 Da die komplexe Erscheinungsweise der Dinge mathematisch nicht faßbar ist, muß der mathematischen Perspektive im Falle der Malerei eine Luft- und Farbperspektive an die Seite gestellt werden, wie es Leonardo zuerst problematisiert und getan hat. Luft- und Farbperspektive sind der mathematisch-perspektivischen Konstruktion untergeordnet. Sie treten als Schmuck zum Gegenstandsein hinzu. "Die Prävalenz des disegno verdeutlicht ... die Art und Weise, wie die Seinsgarantie der Bildwelt im perspektivischen Entwurf zuerst gegeben wird und sich darauf 'schichtenmäßig' das Kunstwerk aufbaut."9 Mesdags Verwendung des Glaszylinders ist dafür ein Beispiel. Mesdag hat zuerst eine Umrißzeichnung angefertigt, und in diese die gewünschte atmosphärische Stimmung malerisch eingefügt.

Die mathematisch begründete Perspektive steht im Kontext einer als primär gedachten Natur-Ordnung. Die vom Künstler im Geiste erzeugte 'idea', die durch die Zeichnung offenbar wird, stammt nicht aus ihm selbst, sondern sie ist der Natur entnommen. Sie wird vom Subjekt erkannt, ist aber in den Objekten bereits vorgebildet, so daß die vom Künstler aus der Anschauung gewonnene Idee zugleich die Absichten der gesetzmäßig schaffenden Natur offenbart. Der Künstler wird zum Demiurgen. Er schafft die Welt des Bildes, die auf ästhetische Weise ein Ganzes sein muß. Das Kunstwerk wird ästhetisch autonom in dem Sinne, daß mit ihm eine in sich geschlossene (virtuelle) Welt erzeugt ist, es ist nicht länger Teil der materiell bestehenden.

Im Ästhetisch-werden der Kunst zeigt sich eine neue Ontologie, bei der die Kunst ein unmittelbares Verhältnis zur Wahrheit erwirbt. Mit der mathematisch-geometrisch begründeten Perspektive wurde nicht nur die Kunst zur Wissenschaft erhoben, sondern der subjektive Seheindruck so weit rationalisiert, daß er die Grundlage für den Aufbau einer fest gegründeten, und doch unendlichen Erfahrungswelt bilden konnte. "Es war eine Überführung des psychophysiologischen Raumes in den mathematischen erreicht, mit anderen Worten: eine Objektivierung des Subjektiven."10 Die Objektivierbarkeit des Subjektiven charakterisiert die Vermittlungsstrategie der neuzeitlichen Perspektivkonstruktion.

 


Home

Inhalt

Weiter


 1 Boehm, 1969, S. 13.

2 Alberti (Della Pittura, 1435), zit. nach: Busch, 1995, S. 68.

3 Boehm, 1969, S. 18.

4 Boehm, 1969, S. 18.

5 Boehm, 1969, S. 19.
Ikonoklasten, die Bilderstürmer, leugnen ästhetische Differenz. Sie verstehen Abgebildetes und Abbildung als identisch. Ikonodulen, die Bilderliebhaber, dagegen verstehen die Darstellung als zeichenhaften Verweis auf etwas fern bleibendes. Bazon Brock sieht die modernste Form des Bilderkrieges präsentiert von der Wissenschaft mit ihren beweiskräftigen Bilderzeugungen. Die Mehrzahl moderner Wissenschaftler, meint Brock, verharre ikonoklastisch in einem Bild- und Begriffsrealismus. (Vgl. Stratmann, 1995, S. 58f.)

6 Busch, 1995, S. 68.

7 Boehm, 1969, S. 37.

8 Boehm, 1969, S. 22.
Pomponius Gauricus unterscheidet in seinem Traktat 'De sculptura' die Perspektive des Gesamtraums von der Perspektive der einzelnen Körper: "Die graphische Perspektive wird entweder das ganze Werk oder dessen einzelne Teile betreffen. Die das ganze Werk betreffende geht der Zeit nach voran und wird zuerst durch das Hinsehen festgestellt; die auf die Teile bezügliche dagegen wählt sich nur diejenigen Dinge zur Betrachtung aus, welche dem Blick begegnen. Ein jeder Körper, gleichviel, welche Stelle er einnimmt, muß doch an irgendeinem Orte vorhanden sein. Da dies so ist, müssen wir auch auf dasjenige, was eher vorhanden ist, achten. Der Ort ist ja aber notwendigerweise früher vorhanden, als der an den Ort gebrachte Körper. Der Ort wird daher zuerst abgegrenzt werden." (Pomponius Gauricus, zit. nach: Boehm, 1969, S. 23.)

9 Boehm, 1969, S. 36.

10 Panofsky, 1964, S. 123.


Home

Inhalt

Weiter