GABRIELE SCHMID

Rom: Zeitschichten

Zu den neuen Gemälden und Zeichnungen von Regine Richter

 

Rom: Zeitschichten. So hat Regine Richter ihre Ausstellung hier im Winnender Rathaus genannt. Die erste römische Zeitschicht, von der ich heute spreche, ist so selbstverständlich Teil meiner Biographie, daß ich sie schon beinahe wieder übersehen hätte. Wenn Regine Richter und ich über Rom sprechen, wenn ich ihre Bilder betrachte, für die Rom Anlaß und Motiv war, dann liegt als gleichsam unsichtbares Fundament ein gemeinsames Erlebnis der aktuellen freundschaftlichen Verbundenheit zugrunde: eine Reise nach Rom. Denn 1985, als wir noch beide Malerei studierten, unternahmen wir mit der Freien Kunstschule Stuttgart eine Exkursion in die Metropole am Tiber. Dort haben wir nicht nur in Museen und Kirchen die Betrachtung von Kunst geübt, sondern uns zugleich zeichnend den Römern und ihrer Stadt genähert. Während es mich allerdings wenig später an die nördlichere Spreemetropole zog, ist Regine Richter Rom - und Stuttgart - treu geblieben. Sie lebt und arbeitet heute in beiden Städten, und sie hat ihre Bilder unter anderem im Stuttgarter Raum, in Karlsruhe, in Köln, Bonn und Sankt Petersburg gezeigt.

Ein Bild beschreiben, hat Heiner Müller einmal gesagt, ein Bild beschreiben heißt auch, es mit Schrift übermalen. Eine Schicht von Worten legt sich über das Sichtbare. Ich habe mich deshalb entschieden die Flucht nach vorne anzutreten und über die Schichtungen und Überlagerungen zu sprechen, die zunächst dem Sujet der Malerin implizit sind: römische Säulenfragmente und Steingebilde Schon beim ersten Blick auf die Stadt wird ihr komplexes historisches Gefüge deutlich. Schichtungen und Überlagerungen bestimmen das Erscheinungsbild Roms und das Leben in der Stadt. Immer wieder stossen die Römer bei Bauvorhaben auf antike Reste von Gebäuden und Denkmälern - weshalb manches Projekt sich verzögert oder schließlich unausgeführt bleibt. Baustellen werden zu Museen.

Doch bereits in den Ursprüngen überlagern sich geschichtliche und mythische Ebenen ständig: Die historisch weitgehend abgesicherte Geschichte der römischen Imperatoren erscheint uns heute kaum weniger sagenumwoben als jene legendäre vom Feldherren Romolus, der seinen Zwillingsbruder Remus erschlagen haben soll und der Sage nach im Jahre 753 v.Chr. die Stadt Rom gründete; nebenbei, zu einer Zeit, als 'Mythos' noch hieß: eine wahre Geschichte erzählen. Etwas später, als Vernunft das abendländische Denken zu durchdringen begann, erhielt die mythische Erzählung den negativen Beigeschmack des Fabulösen und Unverbürgten. Zu Unrecht. Denn noch der genauesten historischen Rekonstruktion haftet ein unauflöslicher spekulativer Rest an.

Die prominentesten Überreste des antiken Stadtzentrums sind sicher das Collosseum - noch bis ins 19. Jahrhundert als Steinbruch genutzt - und das benachbarte Forum Romanum, umgeben von den klassischen sieben Hügeln. - Eigentlich sind es ja einige Hügel mehr; die Zahl 7 verdanken wir einem gut 2000 Jahre alten Übersetzungsfehler des römischen Gelehrten Varro. - Handfest zeugen im Forum einige Säulen vom Tempel der Vestalinnen vom mythischen Ursprung der Stadt. Der Stadtgründer Romolus war, sagt die Legende, ein Sohn des römischen Kriegsgottes Mars und der Rea Silvia, die als Vestalin eigentlich - und unter Androhung der Todesstrafe - zur Jungfräulichkeit verpflichtet gewesen wäre. Die Vestalinnen waren die Hüterinnen des Feuers - mithin Hüterinnen aller Zivilisation, die ja eng mit der Beherrschung des Feuers verbunden ist. Später lösten Kuhhirten die Feuerhüterinnen ab - über Jahrhunderte wurde das Forum als Viehweide genutzt, die antiken Steine wurden abgetragen und erneut verbaut. So sind Mythos und Geschichte der Menschen, die in der Stadt lebten und leben miteinander verknüpft. Zweite Ebene der Zeitschichten.

Auf dem Palatin nahe dem Forum Romanum, wo Romolus die erste Stadtmauer errichtet haben soll, dort sind viele Zeichnungen von Regine Richter entstanden. Auf die Hügel bin ich wieder gegangen. So heißt eines ihrer Gemälde. Doch die Malerin will nicht touristische Erinnerungen festhalten, noch ist es ihr Anliegen, historische Gegebenheiten zu erforschen und getreulich der Nachwelt zu überliefern. Vielmehr bestimmt ein ganz subjektives Empfinden ihre Motivwahl. Die ästhetischen Empfindungen münden in innere Bilder und in Zeichnungen. Die zeichnend gefundenen Formationen bilden dann die Basis für die formale Entwicklung der größeren Arbeiten. Der Prozeß von der Zeichnung zum Gemälde bildet die dritte Ebene von Zeitschichten.

Noch eine weitere Zeitschicht bergen die Gemälde. Denn sie enthalten Schichten früherer Bilder, die Regine Richter übermalt hat. Sie bestimmen zusammen mit den neu entwickelten Elementen die jetzige Erscheinungsweise der Bilder. Auch die Übermalungen sind schichtend angelegt. Farbflächen überdecken Schraffuren, Schraffuren legen sich über Farbflächen - ein Prozeß von Malen, Wegnehmen und Übermalen, der andauert, bis das Ergebnis befriedigt. Ästhetisch befriedigt. Denn für spätere Restauratoren dieser Gemälde, könnte man sich ausdenken, die sich um historische Genauigkeit bemühten, wären solche Bilder eine Zumutung; sind doch die älteren und neueren Teile unlösbar miteinander verschmolzen. Und doch erzählen sie auf authentische Weise die Geschichte nicht nur der Werkbiographie der Malerin. Denn wir alle können, wenn wir uns erinnern, nicht genau unterscheiden zwischen vergangenen Ereignissen, die Gefühle hervorriefen, die nun gleich Sedimenten in uns liegen, und zwischen gegenwärtigen Zuständen, die eigentlich nur immer neue Mischungen und Überlagerungen sind. Diese unscharfen Schichtungen sind es, die wesentlich unsere je individuellen Biographien auszeichnen.

Gleich Regine Richter hat der Berliner Architekt und Maler Yadegar Asisi vor wenigen Jahren im Forum Romanum gesessen, gezeichnet und - in schöns-ter 19.-Jahrhundert-Tradition - aquarelliert. Doch Asisi fertigte seine Skizzen im Blick auf ein Werk an, das vom Oeuvre Regine Richters grundver-schieden ist. Asisi hat ein Panorama des antiken Rom entworfen. Es soll in einer mächtigen Rotunde installiert werden und auf einer umlaufenden Lein-wand den Betrachtern das Forum Romanum zu Zeiten Kaiser Konstantins (also im 3. Jahrhundert) in illusionistischer Vollkommenheit zeigen. Das 360-Grad-Gemälde, eigentlich ein mediales Relikt aus dem 19. Jahrhundert, soll heutigen Besuchern das imperiale Rom als virtuelle Realität vergegenwärtigen. Lebensräume, die längst nicht mehr existieren - das Forum war schon vor 1000 Jahren verfallen und vergessen -, solche Lebensräume werden durch den perspektivischen Effekt gleichsam dreidimensional erlebbar.

Eine Illusion. Regine Richters Bildtitel müssen gegen den Strich gelesen werden, denn vollkommenen Schein bieten die Gemälde nicht. Im Gegenteil liegt genau hier der Unterschied zum in dokumentarischer Absicht gefertigten Panorama des Architekten. In den Bildern ist die Geschichte der Stadt, sind ihre Zeitschichten auf ganz andere Weise aktualisiert. Nicht nur das visuell registrierte Bild der äußeren Erscheinung, sondern der mit allen Sinnen empfundene Eindruck wird zum empathiegeleiteten inneren Bild. Und so ist es folgerichtig, daß alles oberflächlich Abbildhafte auf den Gemälden verschwunden ist, und - das sind die Worte der Malerin selbst - "sich das gegenständlich Beschreibbare auf eine sinnlich erfahrbare Ebene verschiebt". Empfinden, zeichnen, entwickeln und malen. Das sind fundamental zeitliche Vorgänge. Die Zeit, die der Prozeß von einfühlender Beobachtung und ihrer Umsetzung in Malerei braucht, diese Zeit zeigt sich in Regine Richters Malweise selbst: (als nunmehr fünfte Zeitschicht) in der Überlagerung und Schichtung von Farbflächen und Bleistift- oder Kohlestrichen. Die Zeit wird lesbar, wenn das Auge des Betrachters an den Schichtungen, Rändern und Brüchen der Farbfelder verweilt, wenn also der Vorgang der Bildbetrachtung seine eigene Zeit andauert. - Die Zeit, die die Malerin vor ihrem Sujet verbracht hat, fließt ein in jene Zeit, die die Malerei gebraucht hat, um zu entstehen, und schließlich erreicht sie als Zeit des Betrachtens Sie, die Besucher dieser Ausstellung.

Die Zeit des Betrachtens bildet eine sechste Zeitschicht. Es ist die spezifische Leistung von Malerei, daß sie ganz subjektiv Erfahrenes zur Sichtbarkeit bringen kann. Zugleich wird das Sichtbare zum Kommunikationsangebot für Sie, die Betrachter - zu einer Möglichkeit, Ihrerseits Erfahrungen zu machen. Dazu ist kaum Vorwissen notwendig, weil sich Ihr Erlebnis schon in der Malerei selbst auszusprechen beginnt. Schichten werden zu Wahrnehmungsfeldern, die dem Betrachterauge einen abtastbaren Weg bieten, auf dem sich in einem je subjektiven Prozeß die malerische Ganzheit zu erschließen vermag. Treppenstufen führen in den Bildraum. Überlagerungen brechen die perspek-tivische Illusion und leiten den Blick in dunkel farbig changierende Tiefen, während zart oder vehement schraffierte blockhafte Ebenen zurück an die Oberfläche der Leinwand führen. So sind die Bilder gleich imaginären Land-karten, die das Auge auf seiner Reise leiten.

Damit komme ich zur siebten und - ich beschränke mich auf die Zahl der klassischen Hügel - letzten Zeitschicht. Die Reisen nach Rom. Pilgerreisen, Geschäftsreisen, touristische Reisen, Sehnsucht-nach-Arkadien-Reisen, Studienaufenthalte. Reisen bildet, sagt man. Ich glaube von Wolf Biermann stammt die ironische Abwandlung eines bekannten Sprichworts, die Roland Schauls, unser gemeinsamer Lehrer an der Freien Kunstschule Stuttgart, einmal anläßlich einer früheren Ausstellung von Regine Richter zitierte: "Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um." Sich auf Reisen zu begeben - im buchstäblichen Sinne oder übertragen auf eine Bildbetrachtung - zu reisen kann mehr bedeuten als sich zu bilden im landläufigen Verständnis, wenn nämlich Bildung aufgefasst wird als bloße Erweiterung von bereits Gekanntem und Vertrautem. Reisen kann auch bedeuten, sich in Gefahr zu begeben. Damit meine ich nicht Wegelagerer oder Taschendiebe. Nein. Der Anblick und die Erfahrung des Fremden sind es, die scheinbare Sicherheiten umzu-stürzen vermögen.

Die erneuernde und erfrischende Wirkung solchen Reisens haben schon frühere Rombesucher wie der Architekt Karl Friedrich Schinkel oder die Maler Johann Friedrich Overbeck und Hans von Marees empfunden, und die 'arkadische Verlockung' hat sich deutlich in ihren Werken niedergeschlagen. "Es ist ein anderes Seyn" schrieb der wohl berühmteste Italienreisende, der damals 37jährige Johann Wolfgang von Goethe nach seiner Ankunft (1786) in Rom. Der andere Blickwinkel konnte und kann Veränderungen von Ansichten zeitigen und der Möglichkeit nach vor dem, was wir immer schon vermeint haben zu wissen, bewahren. Wir machen Erfahrungen. Wir verändern uns. Wir lernen. Auch schmerzhaft zuweilen. Unglück bildet, heißt es, doch auch ein jäh beglückender Anblick bildet sich uns ein: Die Sonne überwältigt die Stadt, heißt eine andere Arbeit der Malerin, und in ihr vermittelt sich etwas von der Erfahrung, die im Wechselspiel zwischen Individuum und Stadt ihren Anfang nahm, und die jetzt - in Farbflächen, Bleistiftstrichen und Schraffuren geborgen - von den Leinwänden widerscheint.

Ich hoffe, daß meine Worte nicht etwa das Sichtbare verschwinden ließen, sondern daß ich mit ihnen etwas vom Wesen der Gemälde berühren konnte, und überlasse Sie und mich jetzt dem hoffentlich nicht schmerzlichen sondern vergnüglichen und spannenden Suchen von Seherfahrungen vor Regine Richters Bildern.

 

Gabriele Schmid, Berlin 2001